»Was nun?«, fragte Edmund.
»Rein mit ihm«, sagte ich und deutete zum Bett, auf das wir Michaels Leiche gelegt hatten. »Und dann gehst du nach nebenan und zündest den Kamin an. Ich füll inzwischen das Loch wieder mit Erde.«
»Muss ich?«, antwortete er. Der Gedanke, mit seiner Tochter in einem Raum zu sein, schien ihm eine Heidenangst einzujagen. Gerade so, als dächte er immer noch, sie wäre eine Wiedergängerin seiner Frau Mary.
»Tu, was ich dir sage!«, befahl ich.
Wir ließen die Leiche ins Grab hinab, nachdem ich das Messer herausgezogen und an mich genommen hatte, und Edmund murmelte ein leises Gebet. Dann verließ er gehorsam das Kabuff, um nach dem Feuer zu sehen.
Eine halbe Stunde später war die Grube gefüllt. Ich hatte die überschüssige Erde so auf dem Boden verteilt und festgestampft, dass keine Erhebung auf das Grab hinwies. Nun mussten nur noch die Möbel hinausgeschafft und das Brennholz wieder im Verschlag gestapelt werden, dann würde nichts mehr darauf hindeuten, dass hier ein Mensch begraben lag.
Bei dem Gedanken an das Brennholz fiel mir auf, dass Edmund nicht zurückgekommen war. Die warme Steinwand bestätigte mir allerdings, dass er den Kamin geheizt hatte. Vermutlich war er vor dem wärmenden Feuer eingeschlafen.
Mit der Öllampe in der Hand ging ich hinaus. Im Osten dämmerte es bereits. Als ich im ersten Morgenlicht an mir hinabsah, erschrak ich. Ich war von oben bis unten mit Blut und Dreck verschmiert. Ich befestigte den Pumpenschwengel wieder in seiner Halterung und probierte, ob schon Wasser kam. Doch es war noch zu früh. Achselzuckend betrat ich Edmunds Zimmer mit der Nummer fünf über der Tür und leuchtete hinein. Im Inneren war es angenehm warm. Celia lag neben Heather auf dem Bett und hatte ihren Arm um sie geschlungen. Beide schliefen und atmeten tief und gleichmäßig. Auch Heathers Atem klang nicht mehr so flach und röchelnd wie noch vor einigen Stunden.
Mein Blick ging zur Feuerstelle, vor der ein schäbiger alter Ohrensessel stand. Doch Edmund saß nicht darin. Ich drehte mich einmal um die eigene Achse. Edmund war nicht im Zimmer. Er war getürmt. Vielleicht besser so, dachte ich und ging zum Brennholzstapel, um die Scheite in die Bretterbude zu tragen. Plötzlich bemerkte ich etwas Weißes auf dem Boden liegen. Als ich mich danach bückte, erkannte ich, dass es sich um ein zerknülltes Foto handelte. Ich strich es glatt und schaute in das neckisch grinsende Gesicht von Mary Tremain.
Es war das Foto, das ich am Abend meinem Vater gezeigt hatte und das in der Innentasche meines Mantels gesteckt hatte. Ein alarmierender Gedanke schoss mir plötzlich durch den Kopf, und als ich die Taschen meines Mantels untersuchte, fand ich bestätigt, was ich befürchtet hatte: Edmund hatte meine Brieftasche mitgenommen. Samt allem Bargeld, das sich darin befunden hatte. Erst jetzt bemerkte ich, dass auch Edmunds Sachen von der Garderobe fehlten, und wenn ich mich nicht irrte, hatte vorhin noch ein Seesack neben der Tür gelegen.
»Er ist weg«, hörte ich in diesem Moment Celias Stimme hinter mir. »Er hat alles eingepackt und ist verschwunden.«
»Ja«, sagte ich, wandte mich um und sah Celia auf der Bettkante sitzen. »Hat er irgendetwas gesagt? Haben Sie mit ihm gesprochen?«
Celia schüttelte den Kopf und sagte: »Er hat gedacht, ich schlafe und bemerke es nicht.«
»Sie haben Ihren Vater nicht zurückgehalten?«, wunderte ich mich.
»Warum sollte ich?«, antwortete sie und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Dann setzte sie mit gepresster Stimme hinzu: »Er hat ›Lass mich!‹ gesagt. Und dass er mich nicht kennt. Also hab ich ihn gelassen.«
Ich nickte, ging auf sie zu und nahm sie in den Arm.
»Rupert?«, fragte sie schniefend.
»Ja?«
»Ich will es nicht wissen.«
Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, was sie meinte, doch dann nickte ich erneut und sagte: »In Ordnung.«
Ein leises Stöhnen war hinter Celias Rücken zu vernehmen. Dann folgte ein lang gezogenes Knurren. Heather drehte sich auf die Seite, gähnte und stieß im selben Moment einen Fluch aus: »Verdammte Scheiße! Mein Kopf!«
»Heather«, rief Celia erfreut und fuhr herum.
»Celia?«, wunderte sich Heather und schlug die Augen auf. »Was machst du denn hier?« Sie schaute sich verwirrt um und fragte: »Wo bin ich überhaupt?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Celia und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Na, na, Kindchen«, lachte Heather mit ihrer heiseren Stimme. »Kein Grund, gleich zu heulen!« Sie fasste sich an die Stirn, stöhnte vor Schmerz und fügte hinzu: »Du glaubst ja nicht, was ich für einen Mist geträumt hab.«
»Doch«, sagte Celia und lächelte traurig. »Das glaube ich.«
EPILOG
THE REFUGE
»We were spies upon them; men of better luck whom they were bound to envy, and whose mere presence roused the rebel in them. A few of them, loitering about the hitechapel Road, flung a parting sneer or oath at us, as we hailed a returning cab and buried ourselves in it.«
(»Für sie waren wir Spione; Männer mit mehr Glück, die sie zu beneiden gezwungen waren und deren bloße Anwesenheit den Rebellen in ihnen weckte. Einige von ihnen, die an der Whitechapel Road herumlungerten, schickten uns Spott oder einen Fluch hinterher, während wir eine Droschke nach Hause heranwinkten und uns darin begruben.«) Blanchard Jerrold, »London: A Pilgrimage«, 1872
Celia sah ihren Vater nie wieder. Nachdem sie, zusammen mit Rupert Ingram, die verletzte Heather in einer Droschke zum London Hospital gebracht hatte und von dort aus, ebenfalls in Ruperts Begleitung, todmüde zu Maureens nahe gelegener Wohnung in der White Horse Lane gegangen war, hatte sie Miller’s Court nicht mehr betreten. Nicht an diesem denkwürdigen Tag und auch an keinem der folgenden. Sie wusste, dass ihr Vater das Weite gesucht hatte und nicht zu seiner Wohnung zurückkehren würde. Wie damals auf den Clacton Cliffs, als sie das weiße Segel seiner Rennjacht am Horizont hatte verschwinden sehen. Ihr Vater war ein weiteres Mal geflüchtet, und diesmal suchte Celia nicht nach ihm. Sie hatte begriffen, dass es ein bedauerlicher Irrtum gewesen war, einem Mann folgen zu wollen, der sie im Stich gelassen und alle Brücken hinter sich abgerissen hatte.
»Lass mich!«, hatte er sie angeschrien, und deshalb ließ sie ihn. Für immer.
Wie sie Rupert gegenüber betont hatte, wollte sie kein Wort darüber hören, was er Schreckliches getan hatte und weshalb ihm der Galgen drohte. Es war wie eine Art Selbstschutz oder Notwehr, um endgültig aus seinem Schatten zu treten und ein eigenes Leben zu führen. Ihr Vater wurde wieder zu dem Fremden und Unbekannten, der er zuvor so lange gewesen war. »Mr. Brooks«, wie ihre Mutter ihn stets genannt hatte.
Etwa ein Jahr nach den hier geschilderten Ereignissen erfuhr Celia aus einem Brief ihres ältesten Bruders John, dass ihr Vater womöglich wieder in Southampton lebte. John hatte in der Zwischenzeit bei einer anderen Reederei angeheuert und fuhr nun für die P&O Company auf einem Dampfschiff zwischen Southampton, Alexandria und Konstantinopel. In einer Hafenkneipe in Northam wurde ihm, als er beiläufig seinen Nachnamen nannte, die Geschichte eines Seemanns erzählt, der von Kneipe zu Kneipe wandelte und für einen Schnaps oder ein Bier schauerliche Geschichten zum Besten gab. Dieser Mann heiße ebenfalls Brooks und sei ein jämmerlicher Trunkenbold, wie ein alter Seebär berichtete. Er verbreite mit Vorliebe Seemannsgarn über den Kannibalen des Meeres, den Elefantenmenschen und Jack the Ripper und leide unter Verfolgungswahn, offenbar wegen seiner Trunksucht. Ständig rede er von Geistern, die ihm nach dem Leben trachteten. John schrieb in seinem Brief, dass er nicht mit Bestimmtheit sagen könne, ob es sich bei dem betreffenden Mr. Brooks in Southampton um ihren Vater handele, aber es bestehe immerhin die vage Möglichkeit.