Celia zog die Augenbrauen zusammen. Wirklich überzeugend hörte sich das in ihren Ohren nicht an.
Adam schien ihre Skepsis zu bemerken und fuhr wie ein Prediger fort: »Schwester Eva hat einmal gesagt: ›Geht mit der vollen Gießkanne nicht zur Regentonne, sondern zum ausgemergelten Boden, damit alles sprieße und gedeihe!‹ Verstehst du, was sie damit gemeint hat?«
Natürlich verstand Celia, aber zugleich dachte sie an den weißen Dünensand am Südufer des Brightlingsea Creek, den man so viel wässern konnte, wie man mochte, und der dennoch immer unfruchtbar bleiben würde. Diese Männer vor dem Ten Bells, die sich bereits am helllichten Tag betranken und Celia hinterherpfiffen, obwohl sie in Begleitung eines Mannes die Schänke passierte, waren wie dieser Dünensand. Und eine bloße Predigt würde sie nicht von ihrem unmoralischen Tun abhalten.
»Verstehst du?«, wiederholte Adam.
»Sicher«, antwortete Celia zaghaft. Und um Adam eine Freude zu machen, fragte sie: »Wann geht’s los? Ich würde Schwester Eva gern reden hören.«
»Heute Abend um sechs«, antwortete er strahlend und führte sie durch eine schmiedeeiserne Gittertür auf den neben der Kirche gelegenen Friedhof von Christ Church. »Soll ich dich in der Hanbury Street abholen?«
Celia nickte und wollte dann fragen, warum er sie ausgerechnet auf einen Totenacker führte, doch als sie den umfriedeten Hof betrat, verschlug es ihr beinahe den Atem. Der Friedhof erinnerte an einen verwunschenen Garten und wirkte inmitten des Lärms, des Schmutzes und der Betriebsamkeit der Nachbarschaft wie eine friedliche Oase. Die hohen Mauern hielten die Geräusche der angrenzenden Hauptstraße fern, überall wucherten Efeu und andere Rankenpflanzen, Moose und Farne bedeckten den Boden. Die uralten und windschiefen Bäume wirkten inmitten der verwitterten Grabsteine und Denkmäler wie Zauberwesen.
Sie setzten sich auf eine Bank, die ein wenig feucht und grün angelaufen war. Adam wollte ein Taschentuch über die hölzernen Leisten legen, damit Celia sich nicht schmutzig machte, doch sie winkte dankend ab. Es wäre ihr unangenehm gewesen. Nach dem Austausch einiger belangloser Höflichkeiten erzählte Celia ihrem Begleiter, was sie in den letzten Tagen und Wochen erlebt und warum es sie von Essex nach London verschlagen hatte. Adam nickte mitfühlend oder schüttelte ergriffen den Kopf, als sie von ihren Erlebnissen in Southampton berichtete. Bei der Erwähnung des Kuriositätenkabinetts The Silver King und des Namens Tom Norman hob er bedauernd die Schultern. Er habe diese Namen noch nie gehört, sagte er, allerdings habe er vor vier Jahren auch noch ein völlig anderes Leben als heute geführt. Irgendetwas Seltsames schwang in diesen Worten mit; Celia glaubte für einen Moment, ein nervöses Zucken in seinen Mundwinkeln zu sehen. Sie wechselte das Thema und berichtete, dass sie dringend Geld verdienen musste, um nach Hause fahren zu können. Als sie Heathers Bemerkung über die Hungerlöhne in London wiederholte, nickte Adam nachdenklich und griff nach Celias Hand.
»Da hat sie leider recht«, sagte er und tätschelte ihre Finger wie die eines kleinen Kindes. »Du magst noch so geschickt sein, gegen die Näh-und Webmaschinen in den Fabriken kannst du nicht anarbeiten.«
»Ich kann auch mit der Maschine nähen«, wandte Celia ein.
»Das glaube ich dir sofort«, antwortete er. »Aber genau diese Maschinen diktieren die Preise, und weil sich so viele arbeitslose Frauen um die wenigen freien Plätze in den Fabriken streiten, ist die Arbeit der Näherinnen nichts mehr wert. Jedenfalls nicht, wenn man es mit den Augen der Fabrikbesitzer sieht.«
»Was soll ich nur tun?«, entfuhr es ihr. »Ich habe nichts anderes gelernt.«
»Bei den Schwestern im Heim wird deine Arbeit offensichtlich geschätzt«, antwortete Adam und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, das etwas gezwungen ausfiel. »In der Hanbury Street hast du immer ein Bett und eine warme Mahlzeit. Und vielleicht findet sich mit der Zeit ja etwas anderes. Ist ja nur für den Übergang. Wir kümmern uns um dich, darauf hast du mein Wort.« Er legte die Hand auf sein Herz und wiederholte: »Ich kümmere mich um dich.« Dann sprang er plötzlich auf die Beine, zog Celia hoch und sagte: »Komm! Ich möchte dir jemanden vorstellen.« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, führte er Celia quer über den Friedhof zum hinteren Ende des Geländes, wo die Gräber schlichter und die Kreuze enger gesetzt und nicht aus Stein, sondern aus Holz waren. Vor einem solchen schmucklosen Grab blieb er stehen, nahm die Mütze vom Kopf, blickte zu Boden und sagte: »Liebe Emma, ich möchte dir Celia vorstellen.« Dann wandte er sich um und sagte: »Celia, das ist Emma, meine Frau.«
Celia war wie vor den Kopf geschlagen, sie brachte keinen Ton heraus und starrte auf das schlichte Holzkreuz, das nicht so aussah, als stünde es schon lange hier. In das Holz waren zwei Namen und eine Jahreszahl eingeritzt: »Emma & James 1886«.
»Deine Frau?«
Adam nickte und lächelte traurig.
»Und wer ist James?«
»Unser Sohn«, antwortete er und presste die Lippen aufeinander, als müsste er erst Kraft für die nächsten Worte sammeln. Schließlich flüsterte er: »Er starb bei der Geburt. Und meine liebe Emma mit ihm.«
»Oh mein Gott!«, entfuhr es Celia. Sie schlug die Hände vor den Mund und murmelte: »Wie entsetzlich!«
»Ja, so habe ich auch gedacht«, sagte Adam und seufzte schwer. »Ich habe Gott verflucht, weil er so etwas Grausames zulassen konnte. Weil er ein unschuldiges Kind töten konnte und eine junge Frau, die fest an ihn geglaubt hat. Ja, ich habe meinen Gott gehasst. Und ich habe mich selbst verflucht und mir selbst Vorwürfe gemacht.«
»Warum?«, wunderte sich Celia.
»Weil ich …« Wieder bemerkte Celia das nervöse Zucken in seinen Mundwinkeln, doch dann schüttelte er den Kopf und fuhr nach einer Pause fort: »Es war mein Kind, das sie in ihrem Bauch trug und bei dessen Geburt sie gestorben ist.« Er räusperte sich und rieb sich die Schläfen, als wollte er die Gedanken daran aus seinem Kopf verscheuchen. »Ich habe meinen Schmerz in Bier und Branntwein ertränkt, bis man mir Arbeit und Wohnung nahm und ich wie ein Köter in der Gosse landete.«
»Und dann?«
»Dann kam Schwester Eva und hat mich zu neuem Leben erweckt. Sie hat mir die Hand gereicht, als alle anderen sich längst angewidert abgewandt hatten, und sie hat mir klargemacht, dass es gar keinen Grund zu trauern gibt.«
»Keinen Grund zu trauern?«, wunderte sich Celia. »Wie kann sie so etwas sagen?«
»Weil es die Wahrheit ist«, sagte Adam und lächelte. »Weil Emma und James in die Herrlichkeit befördert wurden. Eva hat mich daran erinnert, dass Jesus für uns am Kreuz gestorben ist. Dass das Heil der Menschen durch das Sühneopfer Christi gewiss ist. Und dass es nun an mir sei, mich zum Sterben bereit zu machen. Dadurch wurde ich gerettet.«
Celia konnte Adam nicht ins Gesicht schauen und starrte stattdessen auf das Holzkreuz, als wäre in der Inschrift irgendein Geheimnis verborgen, das es zu enträtseln gelte. Schließlich sagte sie: »Das Kreuz sieht neu aus.«
»Ja«, erwiderte Adam. »Ich habe es erst aufgestellt, als ich mir sicher war, dass ich nicht mehr trauern muss.« Er lächelte seltsam und fügte hinzu: »Ich freue mich für Emma und James.«
»Wie kannst du dich freuen?!« Sie schüttelte fassungslos den Kopf.
»Ihnen geht es gut«, sagte Adam und nickte bestimmt.
Celia glaubte zu begreifen, was er damit sagen wollte, doch die Worte klangen in ihren Ohren dennoch unangebracht und gekünstelt. Sie nahm Adam einfach nicht ab, dass er nicht mehr um seine Frau und seinen Sohn trauerte. Dass er den Schmerz nicht mehr spürte. Und sie hielt es für Unrecht, so etwas von einem Menschen zu verlangen, der gerade seine Liebsten verloren hatte. Trauer musste sein, fand Celia, ob der Verstorbene nun in die Herrlichkeit befördert worden war oder nicht.
»Was ist mit dir?«, fragte Adam, während er wieder nach ihrer Hand zu greifen versuchte.