Auch für Rupert brachten die folgenden Tage und Wochen große Veränderungen. Als er am Freitagabend, mit blauem Auge, geschwollener Wange und genähter Platzwunde an der Schläfe, beim Familiendinner verkündete, er werde in Kürze das Hatchett’s Hotel verlassen, sich eine eigene Bleibe suchen und seinen Lebensunterhalt selbst verdienen, erwarteten seine Brüder einen Tobsuchtsanfall ihres Vaters. Doch Harvey Ingram, der schon auf Ruperts ungehöriges Aussehen erstaunlich regungslos und eher verstört als erbost reagiert hatte, nickte nur mit dem Kopf und machte seinem jüngsten Sohn einen für alle verblüffenden Vorschlag. Eine entfernte Tante der Ingrams sei, wie Rupert wisse, vor einigen Wochen gestorben, erklärte der Vater steif und mit nachdenklicher Miene. Diese Tante habe ihren beiden verheirateten Töchtern das kleine Cottage in der Nähe des Victoria Parks vermacht, in dem sie ihr ganzes langes Leben gewohnt habe. Die Töchter jedoch, die längst mit ihren Familien in die Londoner Vororte gezogen seien, hätten keine Verwendung für das zwar idyllisch, aber doch allzu nahe am East End gelegene Häuschen. Deshalb beabsichtige er, Harvey, seinen Cousinen das Cottage abzukaufen und es Rupert für ein Jahr kostenlos zur Verfügung zu stellen. Auch für ein kleines Startkapital wolle er sorgen. Sollte sein Sohn es schaffen, in diesem Jahr für sein Auskommen zu sorgen und sich eine ernsthafte Perspektive im Leben zu erarbeiten, könne er das Cottage behalten und anschließend damit tun und lassen, was er wolle.
»Und falls nicht?«, fragte Rupert.
»Werde ich alles Weitere in die Wege leiten.«
»Alles Weitere?«, fragte Rupert und schluckte.
»Alles Weitere! Und zwar ohne Widerrede!«, antwortete sein Vater streng und streckte ihm die Hand entgegen. »Bist du einverstanden?«
Rupert zögerte kurz, nickte schließlich und schlug ein.
Bereits am Montag wurde der für die Cousinen sehr großzügige Kaufvertrag unterschrieben, nur zwei Tage später zog Rupert mit seinem kargen Hausstand, der lediglich aus wenigen Möbeln, leidlich Kleidung, einer großen Bildermappe und vielen Büchern bestand, nach South Hackney. In ein von einem verwilderten Garten umgebenes Fachwerkhäuschen, das neben den mehrgeschossigen Neubauten und backsteinernen Reihenhäusern der Gegend wie aus der Zeit gefallen wirkte. Wie ein Relikt. Oder ein Refugium.
Gray Maggott, den ebenso verlässlichen wie eigentümlichen Laufburschen aus dem Crown Hotel, nahm Rupert mit. Als Hausdiener, Gärtner und Botenjungen. So eigenartig es Rupert auch erschien, er hatte sich an diesen komischen und zugleich völlig humorfreien Kauz gewöhnt. Er war ihm seltsam vertraut.
»Mein Faktotum«, wie Rupert scherzhaft sagte.
Gray hatte offensichtlich keine Ahnung, was sein alter und neuer Herr damit meinte, war’s aber dennoch zufrieden, grinste breit und sagte: »Ay, Boss!«
Ruperts erster Gang am nächsten Morgen führte ihn in die White Horse Lane, zum Dosshouse der Mrs. Adams. Dort saßen Celia Brooks, die immer noch blass, aber nicht mehr ganz so krank und ausgezehrt aussah, und Maureen Watson in der Dachkammer beim Frühstück. Die beiden jungen Frauen staunten nicht schlecht, als Rupert sich ungelenk vor ihnen aufbaute, in wirren Worten seine veränderte Situation beschrieb und Celia herumdrucksend aufforderte, zu ihm ins Cottage zu ziehen.
In seinem Kopf hatte er sich alles bereits zurechtgelegt und ausgemalt: Sie würden wie Bruder und Schwester leben, in aller Bescheidenheit und Zurückgezogenheit, und dann könnte er zumindest in Teilen wiedergutmachen, was die Ingrams an den Brooks verbrochen hatten. Rupert hatte das beklemmende Gefühl, tief in Celias Schuld zu stehen. Gleich mehrfach. Nicht nur, weil sie ihm das Leben gerettet hatte.
Doch zu seinem unaussprechlichem Erstaunen schüttelte Celia den Kopf, lächelte verlegen und sagte: »Nein danke!«
»Nein danke?« Rupert war so überrascht, dass ihm die Kinnlade herunterfiel. »Warum nicht?«
»Beabsichtigen Sie, mich zu heiraten?«, fragte Celia mit ernster Miene, während Maureen ihr unter dem Tisch vor Schreck einen Tritt gegen das Schienbein gab.
»Heiraten?«, stotterte Rupert und zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. »Wieso? Ich meine, was … wie …?«
»Ich will Sie auch nicht heiraten, Rupert«, unterbrach ihn Celia, deren strenge Miene und abwehrende Geste nicht zu erkennen gaben, ob sie ihn auf den Arm nehmen wollte oder im Ernst redete. »Und ich werde bestimmt nicht Ihre Mätresse werden. Deshalb sage ich: Nein danke!«
»Celia!«, schimpfte Maureen und wandte sich entschuldigend zu Rupert um. »Sie ist noch nicht ganz wieder beisammen. So ein Fieber kann lange nachwirken. Das müssen Sie ihr verzeihen, Rupert.«
»Meine Absichten sind absolut ehrenhaft, Celia«, bekräftigte Rupert und schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich käme niemals auf die Idee, Ihnen einen unanständigen Antrag zu machen. Das müssen Sie mir glauben.«
»Wie stellen Sie sich das vor?« Celia wurde nun tatsächlich etwas ärgerlich und knallte den Löffel, mit dem sie ihren Haferbrei gegessen hatte, auf den Tisch. »Was bilden Sie sich eigentlich ein? Sie sind ein unverheirateter Mann, und ich bin eine unverheiratete Frau. Dass Mrs. Adams und alle hier in der Herberge glauben, ich wäre Ihre Geliebte, kann ich noch verkraften. Doch der Vorschlag, den Sie mir da unterbreiten, ist für mich eine Beleidigung und ganz unannehmbar. Ob Ihre Absichten ehrenhaft sind oder nicht, ist dabei völlig unerheblich.«
Rupert war wie vor den Kopf geschlagen. Damit hatte er nicht gerechnet. Und daran hatte er tatsächlich nicht gedacht. Aber natürlich hatte Celia recht. Die in seinen Augen verstaubten Ansichten von Moral und Sitte waren ihm so fremd, dass er sich nicht einen Augenblick überlegt hatte, welchen äußeren Anschein es erwecken würde, wenn Celia tatsächlich zu ihm ins Cottage zöge. Bruder und Schwester! Wie dumm von ihm! Wie egoistisch und gönnerhaft!
Wölfe und Schafe!, schoss es ihm durch den Kopf.
Eine Zeit lang stand er reglos und mit betretener Miene da und starrte zu Boden. Dann hellte sich sein Gesichtsausdruck mit einem Mal wieder auf, und er fragte: »Und wenn ich Ihnen eine Anstellung als Haushälterin anbiete?«
»Ich habe bereits eine Anstellung bei Miss Watson«, erwiderte Celia ungerührt. »Ich stehe bei ihr im Wort und werde es nicht ohne Not brechen.«
Maureen schob die Unterlippe vor und zuckte mit den Schultern, als würde sie das nicht unbedingt als Wortbruch auffassen.
»Aber Sie können doch nicht ernsthaft in diesem elenden Loch bleiben wollen!«, platzte es aus Rupert heraus, und er breitete die Arme aus, als könnte er das Elend mit den Händen fassen. »Das kann ich nicht zulassen!«
»Das haben Sie nicht zu bestimmen, Sir!«, schimpfte Celia zurück.
Rupert schluckte und erstarrte.
»Außerdem werden wir nicht länger in diesem Loch bleiben«, sagte Maureen und lächelte kokett und zugleich ein wenig beleidigt. »Morgen ziehen wir in das neue Gästehaus in der Nähe vom People’s Palace. Die Bühnenleitung hat mir einen längerfristigen Vertrag angeboten und eine bessere Unterkunft besorgt. Die Wohnungen für die Künstler sind recht geräumig, nicht zu teuer und haben sogar einen Blick auf den Regent’s Canal.«
»Nur einen Steinwurf von Ihrem Cottage entfernt«, fügte Celia hinzu.
»Herzlichen Glückwunsch, Maureen! Das freut mich für Sie.« Rupert stand wie geohrfeigt da und schaute beschämt auf seine Hände. Er räusperte sich und setzte hinzu: »Es tut mir leid, Celia, ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich bin ein Narr. Seien Sie mir bitte nicht böse.«