»Ich bin Ihnen nicht böse, Rupert«, antwortete sie und lächelte ihm aufmunternd zu. »Ich möchte nur, dass Sie wissen, dass Sie nicht in meiner Schuld stehen. Nicht meinetwegen, nicht wegen meiner Mutter und erst recht nicht wegen meines Vaters.« Sie zögerte und setzte dann hinzu: »Auch nicht wegen Ihres Vaters.«
»Sie wissen von meinem Vater und Ihrer Mutter?«, wunderte sich Rupert.
»Das ist nicht mehr wichtig«, sagte Celia und stand auf. »Können wir das alles nicht hinter uns lassen und einfach neu anfangen? Ohne Schuldigkeit, ohne offene Rechnungen.« Sie reichte Rupert mit feierlicher Miene die verbundene Hand und fragte: »Quitt?«
Rupert staunte einen Moment über diese seltsam kindliche Formulierung, schüttelte dann vorsichtig ihre Hand und antwortete: »Quitt!«
Sie atmete erleichtert aus, als fiele ihr in diesem Augenblick tatsächlich ein Stein vom Herzen, und sagte: »Danke, Rupert!«
Rupert hielt Celias Hand länger als nötig und dachte an das, was sie vorhin gesagt hatte. Dann lachte er plötzlich und fragte: »Warum wollen Sie mich eigentlich nicht heiraten?«
Celia lächelte verkrampft und sagte: »Wir würden uns nur streiten.«
Celia war hin-und hergerissen. Liebend gern hätte sie Ruperts Angebot angenommen. Eine Anstellung als Haushälterin oder auch als Dienstmädchen in seinem Cottage erschien ihr mehr als erstrebenswert. Wie die Erfüllung eines Traums. Doch es wäre aus den falschen Gründen gewesen und hätte zu nichts Gutem geführt. Celia wollte kein Mitleid und kein Almosen, sie wollte keine Anstellung, weil Rupert Ingram sich zu irgendetwas verpflichtet fühlte oder ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Es war, wie sie gesagt hatte: Er war ihr nichts schuldig. Der Rattenbiss, die unselige Affäre ihrer Eltern, der grausige Vorfall im Miller’s Court. All das spielte keine Rolle mehr, durfte keine Rolle spielen. »Schluss damit!«, hatte Rupert in jener schrecklichen Nacht aus tiefstem Herzen geschrien und damit Celia aus der Seele gesprochen.
Deshalb blieb sie als Dienstmädchen bei Maureen und zog mit ihr in das Gästehaus des People’s Palace. Rupert gegenüber hatte Maureen ein wenig geflunkert, denn die Wohnung war alles andere als geräumig, und von einem freien Blick auf den Kanal konnte ebenfalls keine Rede sein. Außerdem war das Haus noch nicht ganz fertiggestellt und würde für längere Zeit eine Baustelle bleiben. Und trotzdem kam Celia die winzige Wohnung, in der sie in einem schmalen Alkoven neben dem Flur schlafen musste, beinahe so prächtig vor wie die Queen’s Hall im nahe gelegenen Volkspalast, denn sie bedeutete einen Neuanfang. Einen Schlussstrich unter all den Schmutz und Dreck, der sich in Celias Kopf angesammelt hatte und sie zu ersticken drohte.
Sorge bereitete Celia lediglich der Gedanke, Rupert mit ihren harschen Worten derart verärgert zu haben, dass er fortan den Umgang mit ihr mied. Doch diese Sorge war unbegründet, wie sich schon bald herausstellen sollte. Bereits am Tag nach Ruperts morgendlichem Erscheinen in der White Horse Lane erhielten Maureen und Celia eine Einladung zum Tee für den kommenden Sonntag nach South Hackney. Der Botenjunge, der die Einladung überbrachte, war ein zersauster Lausejunge mit einer dunkelblauen Verfärbung im Gesicht, der mit ernster Miene und breitem Cockney-Dialekt ausrichtete, ein »Nein danke!« werde sein Herr diesmal nicht akzeptieren.
Als die beiden Frauen an diesem ersten Sonntag im November vor der Gartenpforte des kleinen Häuschens in der Victoria Park Road standen, staunten sie nicht schlecht. Das windschiefe und verwitterte Cottage erinnerte an die Hexenhäuschen aus den Märchen, und Celia musste erschrocken lachen, als sie die Inschrift auf dem nagelneuen Holzschild las, das Rupert über dem Eingang hatte anbringen lassen: »The Refuge«.
Während sie in dem noch karg und unwirtlich eingerichteten Wohnzimmer Tee und Salzgebäck zu sich nahmen und dabei von dem blaugesichtigen Cockneyjungen bedient wurden, berichtete Rupert in überschwänglichen Worten von seinen noch sehr vagen Zukunftsplänen. Offenbar wollte er sein Glück als Schriftsteller, Kritiker oder Reporter versuchen. So genau schien er das selbst noch nicht zu wissen, denn mal sprach er von Romanen und Theaterstücken, die er zu schreiben gedachte, dann wieder redete er von Zeitschriften oder Zeitungen, bei denen er vorstellig werden wollte. Am kommenden Dienstag habe er ein Vorstellungsgespräch bei den Illustrated London News, verkündete er stolz. Dass der Herausgeber des Magazins ein Namensvetter von ihm sei, könne bestimmt kein schlechtes Omen sein.
Für Celia war dieser Nachmittag auch deshalb so angenehm, weil die Vorgänge der letzten Wochen mit keinem einzigen Wort zur Sprache kamen. Als hätten sie verabredet, alles Hässliche und Böse aus »The Refuge« zu verbannen. Sie redeten über die Zukunft und malten sie bunter und strahlender aus, als sie vermutlich sein würde. Maureen beschrieb ihre Auftritte im People’s Palace, die sie übrigens unter ihrem tatsächlichen Namen absolvierte, als mögliches Sprungbrett für eine Karriere auch auf anderen Bühnen, und Rupert versprach, an sie zu denken, wenn er denn tatsächlich sein erstes Theaterstück geschrieben und verkauft habe. Halb scherzhaft wiederholte er auch das Angebot an Celia, seinen Haushalt zu führen, denn der gute Gray – damit meinte er den merkwürdigen Hausdiener – sei zwar ein braver Kerl, aber als Koch eine Niete, und eine Köchin könne Rupert sich im Moment noch nicht leisten.
Nur als die Rede auf Heather kam, verfinsterte sich die Stimmung kurzzeitig. Zwar war sie bereits nach zwei Tagen auf eigenen Wunsch und halbwegs genesen aus dem London Hospital entlassen worden, doch die von Maureen und Celia angebotene Hilfe hatte sie rundweg abgelehnt. Wenn Celia sich weiterhin von der Schlangenlady ausnutzen lassen wolle, könne sie das gern machen, aber sie, Heather, werde Maureen nicht in die Falle tappen und lieber zu Michael in die Dorset Street zurückkehren. Der sei zwar ein Grobian, aber immerhin kümmere er sich um sie. Und das allein sei entscheidend!
Dass Michael nicht mehr lebte und auf welche Weise er gestorben war, konnte Heather nicht wissen, da sie in jener Nacht die ganze Zeit ohnmächtig auf dem Bett gelegen hatte. Auf Celias flehentliche Bitte, sich doch einen anderen Freund und eine andere Behausung zu suchen, lachte Heather nur und rief: »Zerbrich dir meinetwegen nicht den Kopf, Kindchen! Unkraut vergeht nicht.«
Anschließend hatte Celia nichts mehr von ihr gehört. Auch Rupert, der sich in den Kneipen von Spitalfields und bei Ginger im Miller’s Court nach Heather erkundigt hatte, brachte lediglich im Erfahrung, dass sie eine Zeit lang vergeblich nach Michael gesucht habe, dann aber nicht mehr in der Dorset Street aufgetaucht sei. Einmal habe Ginger sie noch in Begleitung eines Unbekannten im Ten Bells gesehen, doch ob das was zu bedeuten habe, könne sie nicht sagen. Sowohl Michael als auch Heather blieben unauffindbar. Da auch Edmund plötzlich verschwunden sei, wie Ginger achselzuckend berichtete, liege die Vermutung nahe, dass die drei gemeinsam das Weite gesucht hätten. Wieso und wohin, das wusste sie nicht. Es interessierte auch niemanden. Im East End verschwand ständig jemand, das war nun einmal der Lauf der Dinge.
Als Celia und Maureen nach dem Tee in der Abenddämmerung das Cottage verließen und in gelöster Stimmung durch den Victoria Park nach Süden gingen, kam ihnen auf einer schmalen Kanalbrücke eine bärtige Gestalt mit einer großen Mappe unter dem Arm entgegen, bei deren Anblick Celia einen leisen Schrei ausstieß. Der Mann schaute kurz auf, grinste schief, tippte sich an die kahle Stirn und schlurfte weiter. Selbst auf die Entfernung war sein durchdringender Schweiß- und Alkoholgestank zu riechen.
»Kennst du den Kerl?«, wunderte sich Maureen und rümpfte angewidert die Nase. »Wie der geglotzt hat!«