Celia zuckte mit den Schultern und dachte an das düstere Gemälde im Wintergarten des Volkspalastes, das diesem seltsamen Mann Tränen der Rührung in die Raubvogelaugen getrieben hatte.
Simeon Solomon wohnte, von wenigen kurzen Phasen abgesehen, bis zu seinem Lebensende im Arbeitshaus von St. Giles, wo er weiterhin unzählige Kreidezeichnungen, Bleistiftskizzen und Aquarelle auf billiges Papier bannte. Keines dieser späten Kunstwerke wurde zu Lebzeiten des Malers in irgendeiner Galerie oder gar einem Museum ausgestellt, obwohl es Simeon gelang, immer wieder Bilder zu verkaufen. Nicht nur die frivolen Zeichnungen, die bei den Wärtern in St. Giles so beliebt waren, oder die banalen Postkartenansichten der Londoner Sehenswürdigkeiten, die er in den Kneipen anbot. Neben Rupert, der ihm wegen seines unsicheren Einkommens nur noch selten Werke zu einem angemessenen Preis abnehmen konnte, gab es zwei weitere heimliche Unterstützer. Dabei handelte es sich um den jungen Dichter Lionel Johnson und den Kunstsammler Herbert Horne, die beide Simeons Kunst außerordentlich schätzten, ohne aber für den in Ungnade geratenen Künstler in der Öffentlichkeit eintreten zu wollen. Simeons unmoralischer Lebenswandel – der außer in seiner Homosexualität in seiner zunehmenden Trunksucht und emotionalen Zügellosigkeit zum Ausdruck kam – machte es den wenigen Freunden schwer, sich offen für ihn starkzumachen. Der einst bewunderte Simeon Solomon blieb zeit seines Lebens das verlorene Genie, als das ihn der Dichter Algernon Swinburne bezeichnet hatte: »Ein großer Künstler, aber ein schwacher Mensch.« Er starb am 14. August 1905 im Arbeitshaus an der Endell Street an den Folgen seines Alkoholismus.
Einige Tage nach seinem Tod erschien in den Illustrated London News ein ungewöhnlich langer Nachruf, der Simeons beachtliche Kunst und sein allzu trauriges Leben in mitfühlenden Worten nachzeichnete und zu der treffenden Schlussfolgerung kam, Solomon habe sein Leben der Kunst gewidmet, ohne die Kunst des Lebens zu beherrschen. Unterzeichnet war der Nachruf mit den Initialen R. I.
Das Ölgemälde »Liebe im Herbst«, das Celia im People’s Palace so fasziniert und verwirrt hatte, wurde noch einige Male zu Lebzeiten des Künstlers ausgestellt, unter anderem 1894 in der Londoner Guildhall Art Gallery. Es befindet sich heute in Privatbesitz. Das Original der Kohlezeichnung »Verwundete Liebe«, die Rupert im Rookery Inn für zwei Pfund von Simeon kaufte, gilt inzwischen als verschollen. Eine zeitgenössische fotografische Reproduktion der Zeichnung befindet sich allerdings in der renommierten Beinecke Library der Yale Universität im US-Bundesstaat Connecticut.
Von einem großformatigen Ölgemälde, das nach Art einer klassischen Pastorale konzipiert ist und ein weiß gekleidetes Hirtenmädchen inmitten von Schafen auf der Weide zeigt, ist den Kunsthistorikern und Solomon-Experten nichts bekannt. Ein solches Gemälde findet sich in keinem Werkverzeichnis und wird in keinem Ausstellungskatalog erwähnt. Immer wieder auftauchenden Gerüchten von dessen Existenz wird von Seiten der Wissenschaft stets heftig widersprochen. Ein solch profanes Bild hätte dem Künstler nicht ähnlich gesehen.
Ganz anders als die Karriere des bedauernswerten Simeon Solomon verlief das weitere Wirken von Eva Booth. Wie sie es ihrem Vater versprochen hatte, blieb Eva ihr Leben lang unverheiratet und widmete all ihr Streben und all ihre Liebe dem Kampf gegen das Laster, die Armut und die Sünde. Und dem Kampf für das Gedeihen der Heilsarmee rund um den Globus.
Als in den 1890er-Jahren ein Auseinanderbrechen der US-amerikanischen Heilsarmee drohte, schickte General Booth seine Tochter nach New York, um Schlimmeres zu verhindern. Eva war eine gehorsame Soldatin, verließ ihre Heimat und ging nach Amerika, wo sie ihren Ruf als fähige Krisenmanagerin bestätigte. Sie wurde Kommandeurin der Salvation Army in Kanada und den USA und nannte sich seit dieser Zeit Evangeline, weil dieser Name besser zu einer Führerin der Heilsarmee passte, als der Name einer aus dem Paradies verbannten Sünderin.
Dass sie das Motto der Heilsarmee »Bist du bereit zu sterben?« nicht nur als bloße Floskel betrachtete, bewies Evangeline Booth, mittlerweile US-Bürgerin, als sie während des Ersten Weltkriegs als eine von 250 Salutistinnen nach Frankreich an die Front ging, um sich dort als Freiwillige um das körperliche und seelische Heil der amerikanischen Soldaten zu kümmern.
Im Jahr 1934 wurde sie, als erste Frau überhaupt, zur Generalin der Heilsarmee gewählt und behielt diese Position fünf Jahre lang. Während dieser Zeit reiste sie unermüdlich um die Welt und verkündete das schlichte Motto ihres verstorbenen Vaters: »Suppe, Seife, Seelenheil!«.
Sie starb am 17. Juli 1950, im Alter von 84 Jahren, in ihrem Haus im Bundesstaat New York.
Was aus Adam Bedford, dem ebenso eifrigen wie jähzornigen Heilsarmisten, wurde, ist nicht mit letzter Gewissheit bekannt. Allerdings scheint er seine Alkoholsucht zunächst ein weiteres Mal in den Griff bekommen zu haben, denn im Jahr 1892 wird ein Mann dieses Namens in den Ausbildungslisten der Heilsarmee als Kadett und Offiziersanwärter geführt. Ein Lieutenant Adam Bedford gehörte auch zu dem Tross, der wenig später mit Captain Eva Booth nach Amerika ging und die dortige Heilsarmee vor dem Zerfall bewahrte. In den USA verlieren sich jedoch die Spuren dieses Mannes, sein Name taucht in keinem späteren Armeeregister auf. Hätte man den Lieutenant, wie es der geregelte Ablauf der Armeekarriere vorgab, nach fünf Jahren zum Captain ernannt, wäre das sicherlich in den akkurat geführten Akten der Heilsarmee vermerkt worden. Es steht zu befürchten, dass der Alkohol auch bei ihm die Oberhand behielt. Ob Adam in den USA blieb oder nach England zurückkehrte, ist nicht bekannt.
Ruperts Start in sein neues Leben verlief vielversprechend. Obwohl er keine schriftlichen Arbeitsproben oder sonstigen Erfahrungen im Zeitungswesen vorweisen konnte, nahm das Gespräch mit dem Redakteur der Illustrated London News einen positiven Verlauf. Rupert erhielt, zunächst nur auf Probe, eine schlecht bezahlte Anstellung als freier Literatur-und Kunstkritiker. Ob sein Vater, dem er von dem bevorstehenden Bewerbungsgespräch erzählt hatte, seine Hände im Spiel hatte, konnte Rupert nicht sagen, doch da er lediglich auf Probe beschäftigt wurde und erst seine vorgelegten Texte über eine weitere Anstellung entscheiden sollten, war es ihm egal. Nicht seine Verbindungen oder Herkunft, sondern allein seine Fähigkeiten als Kritiker würden über den zukünftigen Verlauf seiner Karriere entscheiden.
An einem Donnerstagabend, etwa eine Woche nach seinem Einzug, besuchte ihn sein Vater zum ersten Mal in The Refuge. Als Geschenk brachte er ein großes, flaches Paket mit, das sich beim Auspacken als das Gemälde der Frau in Weiß entpuppte. Rupert war zunächst irritiert und wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Dann entschied er sich für die unverblümte Wahrheit und sagte, dass er das Bild fürchterlich und geschmacklos finde und es sich niemals in sein Cottage hängen werde.
»Tu damit, was du willst«, antwortete sein Vater enttäuscht und rieb sich ratlos die Hände, als wäre ihm kalt. »Du kennst den Maler, hast du gesagt, vielleicht will er es ja wiederhaben.«
»Kaum anzunehmen«, murmelte Rupert schmunzelnd.
»Oder du schenkst es dem Mädchen. Marys Tochter.«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, sagte Rupert nachdenklich und betrachtete das Hirtenmädchen, das Celia so verblüffend ähnlich sah. »Ihr Name ist übrigens immer noch Celia.«
»Celia«, wiederholte sein Vater. »Ich würde sie gern kennenlernen, wenn sich das einrichten ließe. Irgendwann einmal.« Nach einem Räuspern setzte er hinzu: »Natürlich nur, wenn sie das möchte.«
»Falls sie das möchte«, verbesserte Rupert. »Was ich aber bezweifle. Celia wünscht sich nichts sehnlicher, als das Vergangene hinter sich zu lassen.«
»Natürlich, mein Junge«, sagte sein Vater und fügte, als er Ruperts finsteren Blick sah, schnell hinzu: »Rupert.«