Nur zwei Tage später wurde Ruperts ruhiges Dasein in seinem neuen Schlupfwinkel dramatisch gestört. Die hässliche Wirklichkeit drang in The Refuge ein, und alles, was vorher so friedlich und idyllisch schien, geriet schlagartig durcheinander. In der Times, die ihm Gray nach dem Frühstück mit verkniffener Miene gereicht hatte, stieß er bei der Morgenlektüre vor dem Kamin auf folgende Schlagzeile: »Ein weiterer Whitechapel-Mord«.
»Was weißt du darüber?«, fragte Rupert den Jungen und schlug hastig die Zeitung an der entsprechenden Stelle auf.
»Der Ripper hat wieder zugeschlagen«, antwortete Gray und hob die Achseln. »Beim Zeitungsstand haben alle drüber gesprochen. Zerfetzt soll er sie haben. Noch schlimmer als beim letzten Mal. Ein verdammtes Blutbad, sagen die Leute.«
Rupert starrte fassungslos auf den Artikel und las:
»Während der frühen Stunden des gestrigen Morgens ereignete sich ein weiterer abscheulicher und teuflischer Mord in Spitalfields. Die Art der Verstümmelungen lässt wenig Zweifel daran, dass der Mörder die gleiche Person ist, die auch die vorherigen, der Öffentlichkeit bekannten Morde begangen hat. Der Tatort dieses letzten Verbrechens ist in der Dorset Street Nr. 26 in Spitalfields. Obwohl das Opfer, dessen Name Mary Jane Kelly ist, unter der oben genannten Adresse lebte, befindet sich der Eingang zu dem Zimmer, das sie bewohnte, in einem schmalen Hof, in dem es ein halbes Dutzend Wohnungen gibt und der unter dem Namen Miller’s Court bekannt ist. Das Zimmer des Opfers hatte die Nummer 13.«
»Miller’s Court!«, rief Rupert entsetzt und versuchte zu begreifen, was er gerade gelesen hatte.
»Ganz in der Nähe vom Ten Bells«, sagte Gray. »’ne finstere Gegend.«
»Oh mein Gott!«, murmelte Rupert, denn er erinnerte sich in diesem Moment, wer in Miller’s Court Nr. 13 wohnte und auf den Namen Mary Jane hörte. Edmund hatte sie einmal bei diesem Namen genannt: Ginger!
Obwohl ihm beinahe das Frühstück hochkam, konnte Rupert nicht aufhören, die Einzelheiten der Gräueltat zu lesen. So erfuhr er aus dem Artikel, dass Ginger am Freitagmorgen tot auf dem Bett in ihrem Zimmer gefunden worden war. Ihr nackter Körper war fürchterlich zugerichtet und mit einem Messer zerstückelt. Der Mörder hatte ihr nicht nur die Kehle durchgeschnitten, sondern auch die Brüste sowie die Ohren und die Nase abgetrennt und anschließend im Raum verteilt. Außerdem war ihr gesamter Unterleib aufgerissen, und der Ripper hatte etliche Organe entfernt und um den Körper herum drapiert.
»Die Gesichtszüge der armen Kreatur waren nicht mehr wiederzuerkennen«, hieß es in dem Bericht. »Ein fürchterlicher und widerlicher Anblick, wie man sich ihn kaum vorstellen kann.«
Um sich nicht zu übergeben, sprang Rupert auf, knüllte die Zeitung zusammen und warf sie ins Kaminfeuer.
»Los!«, rief er Gray zu. »Wir gehen!«
»Wohin, Boss?«
»Miller’s Court!«
Auf dem Weg nach Spitalfields schossen Rupert die Gedanken wie Tennisbälle durch den Kopf, immer sinnlos hin und her, bis sie sich im Netz verfingen und ein neuer Ball von irgendwoher geschossen kam. Vor wenigen Tagen erst hatte er mit Ginger gesprochen und sie nach dem Verbleib von Heather und Edmund befragt, und nun lag ihr Körper zerstückelt in einer Leichenhalle und wurde von Ärzten und Polizisten untersucht. Rupert kam der ebenso beunruhigende wie unsinnige Gedanke, dass Ginger nur deshalb ermordet worden war, weil Rupert sich mit ihr unterhalten hatte. War Edmund zurückgekommen? War er nicht bloß der Handlanger von Michael gewesen, der Long Liz die Kehle durchgeschnitten hatte, sondern auch der bestialische Mörder der anderen Frauen? Oder war Michael etwa gar nicht tot? Hatten sie ihn lebendig im Holzschuppen begraben, und war er wie ein Untoter seinem ungeweihten Grab entstiegen? Aber aus welchem Grund hätte er Ginger töten sollen? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr verwirrten sich seine Gedanken, bis sich alles vor seinen Augen drehte und er sich einer Ohnmacht nahe fühlte. Konnte es ein Zufall sein, dass Ginger zum Opfer des Rippers geworden war? Und ausgerechnet im Miller’s Court?
Als sie vor dem Britannia Pub ankamen, sahen sie bereits die Menschentraube in der Dorset Street. Vermutlich war seit dem gestrigen Morgen der Strom der Zuschauer und Gaffer nicht abgebrochen. Einige uniformierte Polizisten befanden sich in der Menge, und Rupert vermutete, dass mindestens ebenso viele Zivilbeamte der Metropolitan Police vor Ort waren. Womöglich warteten sie darauf, dass der Mörder an den Ort des Geschehens zurückkam, um sich an dem Schrecken zu laben, den er mit seiner grausigen Tat verbreitet hatte. Gemeinsam mit Gray zwängte sich Rupert in den verstopften Torbogen zum Miller’s Court und schob sich langsam durch die dunkle Passage, wobei er die vor ihm Stehenden rabiat zur Seite stieß, ohne auf deren Flüche und Verwünschungen zu achten. Schließlich hatte er den Hof erreicht, der beinahe ebenso dicht mit Schaulustigen gefüllt war, doch anders als die Umstehenden schaute er nicht nach rechts, auf die verschlossene Tür zur Nummer 13, vor der ein weiterer Constable postiert war, sondern in den hinteren Teil des Hofes. Auf das Zimmer Nummer 5 zur Linken und den Bretterverschlag vor dem Abtritt.
»Jetzt bringt er sie schon in ihren Zimmern um«, hörte Rupert einen Mann neben sich sagen. »Bisher hat er’s immer unter freiem Himmel getan.«
»So hat er mehr Zeit, ihnen die Eingeweide rauszuschneiden«, vermutete ein anderer. »Kann ihn keiner dabei stören.«
»Trotzdem seltsam«, meinte der erste. »Anders als sonst.«
Rupert hatte sich mittlerweile bis zur Tür von Edmunds Wohnung vorgearbeitet und suchte in der Manteltasche nach dem Schlüssel, den er vor gut zwei Wochen eingesteckt hatte. Anders als das Springmesser, mit dem Michael erstochen worden war, hatte Rupert den Wohnungsschlüssel und den Schlüssel für die Bretterbude nicht in der Themse versenkt. Da die Tür nach wie vor verschlossen und das Schloss nicht beschädigt war, nahm Rupert an, dass Edmund in der Zwischenzeit nicht zurückgekehrt war. Denn dass er bei seiner überstürzten Flucht einen Zweitschlüssel eingesteckt hatte, erschien Rupert nicht sehr wahrscheinlich.
»Sie wollen doch nicht etwa da rein, Boss?«, fragte Gray, der sich zwischen dem Eingang und dem Fenster postiert hatte.
»Du bleibst vor der Tür und hältst Wache«, antwortete Rupert, öffnete mit dem Schlüssel die Tür und trat ein.
Obwohl das Morgenlicht durchs milchige Fenster schien, war es in dem Raum so dunkel, dass Rupert eine Weile brauchte, bis er im Inneren etwas erkennen konnte. Doch nichts hatte sich seit dem letzten Mal verändert, jedenfalls konnte Rupert nichts Verdächtiges entdecken. Das Bett machte den Anschein, als hätten Heather und Celia erst vor wenigen Minuten darin gelegen. Die leere Garderobe sah aus wie zuletzt, der schäbige Ohrensessel stand unverändert an Ort und Stelle, und auch der Kamin war offenbar in der Zwischenzeit nicht befeuert worden. Obwohl er es nicht hätte beschwören können, wusste Rupert auf Anhieb, dass Edmund seit seinem Verschwinden nicht mehr hier gewesen war.
»Boss!«, hörte er in diesem Augenblick Grays Stimme vor der Tür. »Dicke Luft!«
»Was machst du da, Junge?«, fragte kurz darauf eine Männerstimme.
»Nichts«, antwortete Gray und klopfte leise gegen die Fensterscheibe.
»Wo kommt ’n plötzlich der Schlüssel her?«
»Keine Ahnung, Sir. Seh ich zum ersten Mal.«
»Verdammter Lügner!«, schimpfte der Mann. »Soll ich die Polizei holen? Sind ja genug Constables im Hof.«
Rupert ärgerte sich, dass er den Schlüssel außen hatte stecken lassen, ging zur Tür, öffnete sie ruckartig und schaute in das Gesicht eines kleinen, etwa vierzigjährigen Mannes, den er noch nie zuvor im Miller’s Court gesehen hatte.
»Wer sind Sie?«, fragte Rupert forsch, obwohl ihm das Herz in die Hose sackte. »Warum keifen Sie hier so herum?«