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»Und wer, bitte schön, sind Sie, Sir?«, konterte der Mann, doch seine Stimme klang beim Anblick des respektabel, beinahe vornehm gekleideten Rupert nicht ganz so feindselig. »Mein Name ist McCarthy. Ich bin der Eigentümer dieses verfluchten Hauses und vermiete die Wohnungen hier. Auch wenn in Zukunft vermutlich niemand mehr im Miller’s Court wohnen will.« Er deutete hinüber zur Nummer 13 und seufzte düster.

»Wissen Sie, wo ich Mr. Edmund Brooks finde?«, antwortete Rupert absichtlich mit einer Gegenfrage.

»Was wollen Sie von ihm?«

»Er schuldet mir Geld.«

McCarthy lachte verächtlich und rief: »Dann stellen Sie sich hinten in der Schlange an, Sir! Seine Miete hat Brooks seit Wochen nicht gezahlt. Und beinahe ebenso lange hab ich ihn nicht gesehen. Wie viel schuldet er Ihnen?«

»Fünfzig Pfund«, antwortete Rupert und erntete ein erstauntes Pfeifen. »In der Wohnung ist niemand, und seine Kleider hat er anscheinend auch mitgenommen«, setzte Rupert hinzu, zog den Schlüssel heraus und reichte ihn dem Vermieter.

»Wenn Sie Brooks tatsächlich fünfzig Pfund geliehen haben«, sagte McCarthy grinsend und steckte den Schlüssel ein. »Dann sind Sie weitaus dümmer, als Sie aussehen, Sir.«

»Er hat das Geld gestohlen.«

»Verstehe.« McCarthy nickte wissend und sagte: »Kein Wunder, dass der Kerl über alle Berge ist.«

»Gibt es nicht einen Holzschuppen, der zu der Wohnung gehört?«, fragte Rupert und hoffte, dass der Vermieter nicht nachfragte, woher er den Schlüssel hatte und wieso er von dem Verschlag wusste. Rupert klopfte dem Mann vertraulich auf die Schulter und deutete nach hinten. »Vielleicht hält er sich dort versteckt.«

Der Vermieter schnaufte ungläubig und ging zum Bretterverschlag. »Wenn Brooks sich dort verkrochen hat, dann ist er nicht nur ein Taugenichts, sondern auch noch ein Idiot.« Er lachte, rüttelte an der verschlossenen Tür und zuckte mit den Achseln.

Rupert bückte sich, als hätte er etwas auf dem Boden entdeckt, zog rasch den kleinen Schlüssel aus der Manteltasche, hielt ihn dem Vermieter vor die Nase und fragte: »Vielleicht passt der? Lag auf dem Boden.«

»Seltsam!«, knurrte McCarthy, schüttelte verwirrt den Kopf und öffnete die Tür. »Sehen Sie? Kein Brooks!«, sagte er und wies auf den Stapel Brennholz, der ordentlich auf dem geplätteten Erdboden vor der Steinwand aufgeschichtet war. Die Matratze und der kleine Tisch waren hochkant an die Seitenwand gelehnt. Der Stuhl stand neben dem Eingang. Nichts hatte sich in den letzten beiden Wochen hier verändert. Niemand war von den Toten auferstanden. Michael Kidneys Grab war unberührt.

»Kein Brooks«, bestätigte Rupert, wandte sich ab, weil ihn die Erinnerung wie ein Schlag traf, und ging zurück in den Hof, wo die Constables inzwischen damit begonnen hatten, die Schaulustigen aus dem Hof zu scheuchen.

Rupert verließ gemeinsam mit Gray und den anderen Neugierigen den Hof. Als er sich unter dem Torbogen ein letztes Mal umwandte, sah er McCarthy neben einem Constable vor Edmunds Wohnung stehen und nachdenklich auf einen Schlüssel in seiner Hand starren.

»Nach Hause, Boss?«, fragte Gray.

»Nach Hause«, bestätigte Rupert und verließ die Dorset Street, um sie nie wieder zu betreten.

Jack the Ripper wurde, wie hinlänglich bekannt, nie gefasst. Und Rupert sollte niemals erfahren, ob der grausame Mord an Ginger tatsächlich nur ein böser Zufall war oder ob er mit den seltsamen Geschehnissen zusammenhing, die in den Wochen zuvor so unvermittelt über Rupert hereingebrochen waren. Der Mord im Miller’s Court war das abscheulichste, zugleich aber auch das letzte Verbrechen des Rippers. Wer der Mörder war, was nach dem November 1888 aus ihm wurde und wieso er nicht weitermordete, darüber wurde damals wie heute viel spekuliert. Die Zahl der Verdächtigen ist ebenso abenteuerlich wie die Erklärungsansätze mancher Theorien, die den Mörder bis ins Königshaus hinein vermuteten. Auch wenn es schwer zu ertragen ist: Es gibt Fragen, auf die man keine Antworten findet. Und die sogar unergründlicher werden, je eingehender man sich mit ihnen befasst.

Bis heute zählt Elizabeth Stride, genannt Long Liz, zu den sogenannten Kanonischen Fünf, also jenen fünf Frauen, die mit höchster Wahrscheinlichkeit im Herbst 1888 von Jack the Ripper getötet wurden. Zwar gab es immer wieder Stimmen, die darauf hinwiesen, dass die Tat nicht ins übliche Muster des Frauenmörders passte, und einige Autoren und Kriminalhistoriker mutmaßten sogar, Elizabeths Freund Michael könne seine Hände bei dem Mord im Spiel gehabt haben. Beflügelt wurde diese Deutung durch die Tatsache, dass die Adresse in der Dorset Street, die Michael Kidney vor dem Coroner zu Protokoll gegeben hatte, offenbar nicht stimmte und er stattdessen zusammen mit einer jungen Russin namens Annie in der Devonshire Street in Mile End lebte. Auch dass der Mann anschließend wie vom Erdboden verschluckt war und nie wieder in Erscheinung trat, gilt manchen »Ripperologen« als bedeutsamer Hinweis. Dennoch wird der Mord in der Berner Street von den meisten Experten weiterhin Jack the Ripper zugeordnet.

Einen Edmund oder Ned Brooks sucht man in den einschlägigen Quellen und zahlreichen Büchern übrigens vergeblich.

Die Dorset Street blieb ihrem Ruf als Elendsviertel und Gefahrenpflaster treu, der schlechte Leumund wurde durch den bestialischen Mord im Miller’s Court nur noch bestärkt. Im Jahr 1904 wurde die »schlimmste Straße Londons«, wie sie mitunter in zeitgenössischen Berichten hieß, in Duval Street umbenannt, was aber den Slum-Charakter der Gasse keineswegs abmilderte.

In den 1920er-Jahren wurde schließlich von der Londoner Verwaltungsbehörde beschlossen, den nahe gelegenen Spitalfields Market nach Süden hin zu erweitern und die gesamte Nordbebauung der Duval Street abzureißen, um Platz für eine neue Markthalle zu schaffen. Auch das Eckhaus, in dem sich der Britannia Pub befunden hatte, wurde im Laufe dieser Maßnahmen dem Erdboden gleichgemacht.

Während der Abrissarbeiten entdeckten Bauarbeiter im südöstlichen Teil des Areals, etwa fünf Fuß unter der Erde, ein menschliches Gerippe. Die Knochen gehörten offenbar zu einem mittelgroßen Mann und waren vollständig skelettiert, allerdings schienen sie nicht so alt zu sein, dass sie als historisch bedeutsam eingeschätzt wurden. Woran der Mann gestorben war, wieso man ihn an dieser Stelle begraben hatte und ob er womöglich einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, konnte nicht geklärt werden. Die Knochen wiesen keinerlei Verletzungen auf und konnten keinem Vermisstenfall der letzten Jahrzehnte zugeordnet werden.

Einige der Bauarbeiter ulkten, sie hätten vermutlich die Gebeine von Jack the Ripper ausgegraben. Immerhin hätte der sein letztes Opfer ganz in der Nähe umgebracht und wäre anschließend nicht länger mordend durchs East End gezogen.

Das Skelett des unbekannten Toten wurde nach der polizeiärztlichen Untersuchung in einem anonymen Gemeindegrab auf dem Friedhof von St. Mary Matfelon in der Whitechapel Road beerdigt.

Während Rupert einen Zufluchtsort namens The Refuge hatte, in den er sich zurückziehen konnte, wurde für Celia der People’s Palace zu einer Art Asyl. Hier ging alles seinen geregelten, auf Programmzetteln nachlesbaren Gang, hübsch getrennt nach sozialer Herkunft. Die Reichen versammelten sich in der zentralen Halle der Königin, die Armen in den Nebenräumen, die Schüler in separaten Gängen, aber alle trafen sich unter einem Dach. Es war eine kleine Welt für sich.

Nur Rupert vermochte es, Celia hin und wieder aus dieser selbst gewählten Abgeschiedenheit zu entführen und sie daran zu erinnern, dass es auch ein Leben außerhalb des Volkspalastes gab und dass dieses Leben nicht zwangsläufig von schlimmen und hässlichen Dingen bestimmt sein musste. Beinahe jeden dritten Abend erschien er im People’s Palace, verfolgte Maureens gelenkigen und von Mal zu Mal geschmeidigeren Auftritt auf der Großen Bühne, lud die beiden Frauen anschließend zu einem Cocktail an der Bar ein und begleitete sie später bis zu ihrer Wohnung, die er niemals betrat, obwohl Maureen ihn oft dazu einlud.