»Der ist in dich verknallt«, vermutete Maureen und grinste anzüglich.
»Unsinn!«, erwiderte Celia erschrocken und hielt Maureens lederne Kostümtasche wie einen Panzer vor sich. »Wie kommst du denn darauf?«
»Weil er sich so benimmt, als wäre das Gegenteil der Fall«, dozierte Maureen mit einer Mischung aus Lebensweisheit und Ironie. »Immer schickt er seinen Burschen, statt selbst zu uns zu kommen. Und er fasst dich nie ohne Handschuhe an. Weil er dich sonst nicht mehr loslassen würde.«
Celia war Maureens Logik ein wenig zu hoch, aber sie hatte keine Lust, mit ihr über Rupert zu streiten. Celia war einfach gern mit ihm zusammen, obwohl sie so wenig gemein hatten und oft unterschiedlicher Meinung waren. Es war nicht zu verkennen, dass sie aus unterschiedlichen Welten stammten und sich ihr bisheriger Erfahrungsschatz in beinahe keinem Punkt überschnitt. Manchmal kam Celia sich in seiner Gegenwart so naiv und ungebildet vor, dass sie sich regelrecht schämte. Dann gab sie ihm umso heftiger und schnippischer Widerworte. Celias Vorwitz, hätte das ihre Mutter genannt. Dennoch hörte sie ihm interessiert zu, wenn er von seiner neuen Arbeit sprach, sich über den drolligen Gray amüsierte oder Vorträge über Kunst und Literatur hielt. Und sie war ihm dankbar, dass er sich an ihre Abmachung hielt und niemals etwas von sich gab, was sie nicht hören oder wissen wollte.
»In Ordnung«, hatte er in jener Nacht in Vaters Kammer zu ihr gesagt. Und das war es auch.
Nur ein einziges Mal verstieß er gegen diese Vereinbarung. Es war Anfang Dezember, und Rupert wartete nach der Aufführung wie üblich neben der Bühne auf Maureen und Celia. Als sie schließlich erschienen, machte er den Vorschlag, nicht an der Bar im Bühnenraum etwas zu trinken, sondern im Hatchett’s Hotel in Mayfair. Dort finde eine Adventsfeier statt, zu der er als Sohn des Hausherrn eingeladen sei, und er würde die Damen gern dorthin mitnehmen.
Maureen war auf Anhieb begeistert, machte sich lediglich Sorgen wegen ihrer unpassenden Garderobe und wollte sich gleich bei Rupert einhaken.
Doch Celia schüttelte energisch den Kopf und fragte: »Warum?«
»Warum nicht?«, konterte Maureen. »Ich leih dir eins von meinen Kleidern, wenn’s das ist. Wir werden schon was Passendes finden.«
»Es ist nur eine Adventsfeier«, sagte Rupert und starrte zu Boden, als könnte er Celias Blick nicht ertragen. »Keine große Sache.«
»Es ist nicht nur eine Adventsfeier«, antwortete Celia. »Und das weißt du.«
»Komm schon, Celia«, murrte Maureen. »Sei keine Spielverderberin.«
»Das ist kein Spiel«, beharrte Celia und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Er möchte dich gern kennenlernen«, sagte Rupert. »Das ist alles.«
»Wer?«, fragte Maureen.
»Du musst kein Wort mit ihm reden, wenn du das nicht willst«, sagte Rupert und hob beschwichtigend die Hände. »Er wird nur kurz Hallo sagen und dann wieder gehen. Das verspreche ich.«
Maureen verstand nur Bahnhof und zog die Nase kraus.
Celia schüttelte erneut den Kopf und sagte: »Noch nicht.«
»Später einmal?«, fragte Rupert.
»Warum ist das plötzlich so wichtig für dich?«
»Ist es ja gar nicht.«
»Anscheinend doch!«
»Jetzt sei nicht so, Celia!«
»Ich bin, wie ich bin!«, rief Celia so laut, dass sich die Leute zu ihnen umschauten. »Gewöhn dich besser dran!«
Beide verstummten, und Maureen blickte ratlos in die Runde.
Celia taten ihre barschen Worte leid, doch sie konnte und wollte sie nicht zurücknehmen. Sie konnte es nun mal nicht ändern. Sie war, wie sie war.
Doch dann lachte Rupert plötzlich, als wäre ihm etwas fürchterlich Komisches eingefallen, und er fragte: »Was ist eigentlich so schlimm daran, sich hin und wieder zu streiten.«
Celia verstand nicht und fragte: »Was meinst du damit?«
»Nichts«, sagte Rupert schmunzelnd und führte die beiden zur Bar. »Ich habe nur laut gedacht.«
ANHANG
Anmerkungen und Übersetzungen
London and South Western Railway: engl. Eisenbahn-Unternehmen (L&SWR), das von 1838 bis 1922 bestand und deren Strecken von London aus nach Südwesten führten Waterloo Station: der 1848 eröffnete Bahnhof der L&SWR wurde immer wieder erweitert und ausgebaut, sodass er völlig unübersichtlich wurde und zu Beginn des 20. Jh. abgerissen und neu gebaut werden musste Hansom Cab: nach dem Erfinder Joseph A. Hansom (* 1803, † 1882) benannte zweisitzige, nach vorne offene Kutsche, bei der der Kutscher hinter dem Verdeck saß Bowler: 1850 von Thomas Bowler & Sons entworfener Herrenhut aus Filz mit rundem Kopf, in Deutschland Melone genannt Half Crown: brit. Münze im Wert von 2½ Shilling oder 30 Pence
London E: seit 1866 gültiger Postcode für Ost-London, die heutigen Zahlen (E1 bis E18) wurden erst 1917 hinzugefügt Potts’ Vinegar Works: Essigbrauerei in Southwark, die sich unter verschiedenen Besitzern bereits seit 1641 an dieser Stelle befand Barclay, Perkins & Co.: Brauerei in Southwark, die 1791 aus der 1616 gegründeten Anchor Brewery hervorging und 1955 mit der Courage Brewery fusionierte; die Gebäude wurden 1981 abgerissen, nur der zur Brauerei gehörende Anchor Pub an der Themse existiert noch heute George Inn: hist. Pub an der Borough High Street in Southwark und eines der wenigen Coaching Inns der Postkutschenzeit, die noch heute als Pub betrieben werden die beiden Pennys: bis ins 19. Jh. wurden den Toten Münzen auf die Augen gelegt, um sie zu schließen; nach der griech. Mythologie sollte damit der Fährmann bezahlt werden, der die Verstorbenen über den Fluss Styx ins Totenreich befördert Ha’penny: brit. Münze im Wert eines ½ Penny
Tom Norman: (* 1860, † 1930) engl. Schausteller, Entertainer und Showman, unterhielt zeitweilig bis zu 13 Kuriositätenkabinette und Freak-Shows in London, erhielt den Spitznamen »The Silver King« wegen seines auffälligen Silberschmucks; den Namen machte er sich später zu eigen Ay: (engl., veralt.) Ja, jawohl
Lyndhurst: Dorf im New Forest, Hampshire, etwa 14 km nordöstl. von Southampton
Porridge: (engl.) dicker (Frühstücks-)Haferbrei
London Hospital: Krankenhaus in Whitechapel, 1740 gegründet, seit 1757 in der Whitechapel Road, seit 1990 The Royal London Hospital Yard: (engl.) Hof; Yard kann aber auch ein Längenmaß sein, entspricht 3 Fuß = 91,44 cm
Cloak and Dagger: (engl.) Umhang und Dolch, im engl. Sprachgebrauch als Synonym für mysteriös oder geheimnisvoll verwendet Penny Gaff: (engl.) Kuriositätenkabinett, dort wurden menschliche Missbildungen ausgestellt und berühmte Verbrechen nachgespielt; im 19. Jh. bei den unteren Schichten sehr beliebt, auch wegen des geringen Eintritts von einem Penny Elefantenmensch: Joseph Merrick (* 1862, † 1890), litt seit der Geburt unter schweren Deformationen des Körpers, die ihn völlig entstellten; wurde als »Monster« auf Jahrmärkten ausgestellt (im Herbst 1884 auch im Penny Gaff von Tom Norman im East End), bevor er 1886 von einem jungen Arzt im London Hospital aufgenommen wurde; erst 1986 wurde als Grund für die Deformation das »Proteus-Syndrom«, eine seltene Erbkrankheit, identifiziert The Salvation Army: (engl.) Heilsarmee, christl. Freikirche mit starker sozialer Tätigkeit, 1865 im Londoner East End von William Booth (* 1829, † 1912) als East London Christian Mission gegründet, 1878 umbenannt und nach militär. Vorbild strukturiert, Booth wurde ihr erster General Florence Soper Booth: (* 1861, † 1957) setzte sich innerhalb der Heilsarmee vor allem für die Belange der Frauen ein, leitete seit 1884 The Women’s Social Work in der Hanbury Street, Spitalfields Petticoat Lane: die heutige Middlesex Street im East End, nur der Petticoat Lane Market erinnert noch an den alten Namen Illustrated London News: 1842 gegründetes, wöchentl. erscheinendes und reich bebildertes Magazin, das seine v.a. bürgerlichen Leser von Politik und Weltgeschehen unterrichtete Gordon Relief Expedition: 1884/85 in den Sudan entsandte Nil-Expedition, die den dortigen Generalgouverneur Gordon aus der Belagerung durch Aufständische retten sollte General Gordon: Charles George Gordon (* 1833, † 26. 1. 1885), brit. Generalmajor und Generalgouverneur des Sudans, wurde nach monatelanger Belagerung von Aufständischen getötet, zwei Tage bevor die Rettungsexpedition die Eingeschlossenen erreichte Khartum: Hauptstadt des Sudans