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»Lass uns gehen!«, antwortete Celia knapp und wandte sich brüsk ab. »Mir ist kalt.« Sie lief hastig voran zu der Gittertür, durch die sie den Friedhof betreten hatten, und schaute sich nicht zu Adam um, der Mühe hatte, ihr zu folgen.

Als Celia auf den Gehweg vor der Kirche trat, war es ihr, als hätte sie sich Wattepfropfen aus den Ohren genommen. Der schlagartig aufbrausende Lärm der Fuhrwerke und das Geschrei der Straßenhändler wirkten nun noch lauter als zuvor. Direkt vor Celia baute sich ein Zeitungsjunge auf und schrie ihr ins Gesicht: »Tragödie oder Scherz? Jack the Ripper schickt Niere des Opfers. Makaberer Brief an den Vorsitzenden der Bürgerwehr. Lesen Sie den Star!«

Celia fuhr wie unter einem Stromschlag zusammen, stieß den verdutzten Jungen zur Seite und lief mit schnellen Schritten in Richtung Hanbury Street. Hinter sich hörte sie Adams Schritte und seine verwunderten Rufe. Als er sie schließlich vor den Markthallen eingeholt hatte und an der Schulter festhielt, da riss sie sich los und fuhr ihn an: »Lass mich!«

»Was hab ich dir getan?«, fragte er.

»Nichts!«, fauchte sie. »Lass mich einfach!« Sie wusste, dass sie ihm unrecht tat, aber sie konnte nicht anders. Es fühlte sich an, als müsste sie sonst vor Wut und Ohnmacht schreien. Dass sie so außer sich war, hatte überhaupt nichts mit Adam zu tun. Es hing auch nicht mit den blutrünstigen Nachrichten über den Ripper zusammen, über den sie schon in Brightlingsea widerliche Gerüchte gehört hatte. Nein, der Lärm, die Stadt, ihr Leben, alles wuchs ihr über den Kopf, alles lief aus dem Ruder. Celia wusste nicht mehr ein noch aus und hätte sich am liebsten irgendwo verkrochen. Sie wollte allein sein. Weg sein. Unauffindbar.

»Bleibt es bei heute Abend?«, rief Adam ihr mit banger Stimme hinterher, als sie über die Straße und in Richtung Frauenheim rannte. »Um sechs?«

Celia hielt einen Augenblick inne, nickte ruckartig zu ihm hinüber und sprang dann die Stufen zum Heim hinauf, als wäre sie auf der Flucht. Es dauerte eine Weile, bis auf ihr Klopfen hin geöffnet wurde, und als sie endlich ins Haus stürmte, standen ihr Tränen der Erleichterung in den Augen. Als wäre sie im letzten Augenblick einer großen Gefahr entkommen.

Dummes Gör!, schimpfte sie sich in Gedanken. Reiß dich gefälligst zusammen!

Doch sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Sie ließ die verwundert und besorgt dreinschauende Schwester Florence ohne Erklärung in der offenen Tür stehen und rannte die Treppe hinauf zur Dachkammer. Sie kroch ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Sie wollte nichts mehr sehen oder hören!

5

Celia konnte sich nur an wenige Erlebnisse mit ihrem Vater erinnern. Und das lag nicht daran, dass Celia sie vergessen oder verdrängt hatte. Es gab sie schlichtweg nicht. Auch als Ned Brooks noch bei seiner Familie in Brightlingsea gewohnt hatte, hatte er nicht wirklich mit ihnen »zusammengelebt«. Oft war er wochen-oder monatelang zur See gefahren, und in den Zeiten an Land, zwischen den Regatten und Schiffspassagen, war er meist von einer Schänke zur nächsten gewankt, als fürchtete er sich vor den Menschen, die zu Hause auf ihn warteten. Mit den Kindern hatte er kaum ein Wort gewechselt und mit der Mutter häufig nur lauthals gestritten. Die übrige Zeit hatte er schnarchend auf dem Sofa gelegen und seinen Rausch ausgeschlafen.

Die schönste Erinnerung an ihren Vater war ein Moment, in dem Celia ihn lediglich aus der Ferne als winzige Figur auf einer Rennjacht gesehen hatte. Es war an einem Sonntag gewesen, nur wenige Tage vor Neds Verschwinden. Mary Brooks hatte ihre Tochter und die beiden Jungs mitgenommen, um an der Steilküste von Clacton den vorbeisegelnden Jachten zuzuwinken. Ihr Vater hatte damals als Vollmatrose auf der Rennjacht von Kapitän O’Neill angeheuert, einem erfolgreichen und weithin bekannten Jachtensegler, der schon unzählige Preisrennen gewonnen hatte. Diese Regatten standen bei den Reichen und Adeligen hoch im Kurs, und es gehörte für die Wohlbetuchten zum guten Ton, sich eine Jacht zu leisten und allerorts an Segelrennen teilzunehmen. Celia hatte nie begriffen, warum man einen derartigen Aufwand betrieb und so viel Geld zum Fenster hinauswarf, nur um sich mit Gleichgesinnten zu messen, doch solange es dem Vater eine Stellung verschaffte, konnte es ihr nur recht sein.

Bei strahlendem Sonnenschein und in bestem Sonntagsstaat standen sie an diesem Festtag auf den Clacton Cliffs und warteten mit zahlreichen anderen Zuschauern auf das Erscheinen der Segel am Horizont. Als schließlich die ersten weißen Punkte hinter der Halbinsel von Walton auftauchten und ein Mann vom örtlichen Jachtclub durch sein Fernrohr schaute und mit feierlicher Stimme verkündete, die Solent Star von Kapitän O’Neill liege mit mehreren Schiffslängen in Führung, fielen sich die drei Brooks-Kinder kreischend in die Arme, hielten sich an den Händen und tanzten lachend um ihre Mutter herum. Ob ihr Vater die Küstenregatta tatsächlich gewonnen hatte, daran konnte Celia sich nicht entsinnen, aber der Anblick der Segel am Horizont und die Erinnerung an den Ringelreigen auf den Klippen von Clacton hatten sich ihr bis heute wie ein Feuerzeichen ins Hirn eingebrannt. Vielleicht auch deshalb, weil Celia ihren Vater danach nie wiedergesehen hatte. Das Winken auf den Klippen war ihr Abschied von ihm gewesen.

Als Celia ein heiseres Kichern neben sich hörte, fuhr sie erschrocken zusammen. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie unter ihrer Bettdecke eingeschlafen sein musste. Sie warf das Laken beiseite, schaute zu Heathers Koje und stieß einen spitzen Schrei aus.

»Na, ausgeschlafen?«, fragte Heather amüsiert.

»Was, zum Teufel, machst du da?«, rief Celia entrüstet. Sie konnte kaum glauben, was sie sah. Ihr offener Koffer lag auf dem Nachbarbett, der Inhalt war auf der Decke verteilt, während Heather im Schneidersitz davorhockte, mit einer Postkarte in der Hand und einem belustigten Grinsen im Gesicht.

»Lesen«, antwortete Heather. »Siehst du doch.«

»Wer hat dir erlaubt, in meinem Koffer zu kramen?« Celia riss ihr die Ansichtskarte des Silver King aus der Hand.

»Wollte dich nicht wecken«, meinte Heather gleichgültig.

Celia raffte ihre Sachen zusammen, warf sie in den Koffer und klappte ihn zu. Nur die Karte des Kuriositätenkabinetts behielt sie in der Hand. »Wie kommst du dazu, meine Briefe zu lesen?«

»Es war bloß ’ne Postkarte, Schätzchen«, antwortete Heather lachend und rümpfte die Nase. »Was stellst du auch den Koffer vors Bett und schließt ihn nicht ab? Konnte ja nicht ahnen, dass du was zu verbergen hast.«

»Ich hab überhaupt nichts zu verbergen«, empörte sich Celia und ärgerte sich zugleich, dass sie den Koffer nicht verschlossen oder versteckt hatte.

»Warum regst du dich dann so auf?«, meinte Heather achselzuckend, legte sich hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zur Dachschräge. »Ned Brooks«, murmelte sie leise, »heißt er so?«

»Wer?«

»Dein Vater. Ist die Karte von ihm?«

»Das geht dich gar nichts an.«

»Und wer ist Mr. Egerton? Warst du vorher in Southampton?«

»Kümmer dich um deinen eigenen Kram!«

»Hätt’ ja sein können, dass ich Sachen weiß, die dich interessieren«, meinte Heather scheinbar unberührt. »Ich dachte, du suchst deinen Vater.«

»Na und?«, sagte Celia unsicher und schaute zu Heather, die unverwandt zur Decke starrte. »Was willst du eigentlich von mir? Wovon redest du?«

»Kennst du die Schlangenfrau von Shoreditch?«, antwortete Heather mit einer Gegenfrage.

Celia schüttelte langsam den Kopf.

»Ich aber«, sagte Heather und lächelte spöttisch. »Schon lange. Wir kommen nämlich beide aus Blackburn. Haben zusammen in den Baumwollspinnereien gearbeitet. Will sie aber heute nichts mehr von wissen. Eigentlich heißt sie Maureen Watson, aber inzwischen nennt sie sich Sheila, die Schlangenfrau von Shoreditch.« Sie lachte und setzte hinzu: »Blöder Künstlername, findste nicht?«