Adam ließ sich davon nicht beirren. Er war in dem Bericht seiner Erweckung inzwischen bei seiner Trunksucht und der daraus folgenden Obdachlosigkeit angelangt und beschrieb in schlichten, aber dennoch eindringlichen Worten, wie er jeden Halt im Leben verloren hatte und der Verrohung, der Sünde und dem Tod anheimgefallen war.
»Ich stünde heute nicht vor euch, liebe Brüder und Schwestern«, rief er und legte die Hand aufs Herz, »sondern läge auf dem Friedhof von Christ Church begraben, wenn mich Schwester Eva nicht gerettet und zu Gott geführt hätte. Denn sie hat mich erweckt und daran erinnert, dass es nicht meine Aufgabe ist, mich selbst zu hassen, sondern Gott zu lieben, wie er mich liebt.« Er streckte die Hand aus und deutete mit seiner Fackel auf eine junge rothaarige Frau, die neben ihm und Schwester Florence auf den Stufen stand und verlegen lächelnd zu Boden schaute. »Sie hat mir den Weg zum Heil gewiesen!«, rief Adam.
Celia war erstaunt, als ihr klar wurde, dass die rothaarige Frau Eva Booth sein musste. Nach Adams Erzählungen hatte sie eine selbstbewusste und resolute Frau erwartet und nicht ein beinahe verschüchtert wirkendes Mädchen mit verschämtem Blick und bescheidenem Lächeln. Schwester Eva war eine sehr hübsche junge Frau, die Celia so gar nicht wie eine eifernde Predigerin und bekehrende Missionarin vorkam. Eher machte sie den Eindruck, als benötigte sie selbst Hilfe und Beistand. Diese Frau war also die unerschrockene Offizierin des Heils, die mittellosen Sündern, verruchten Dirnen und gottlosen Verbrechern das Evangelium nahebrachte? Celia mochte es kaum glauben.
Adam beendete sein »Zeugnis«. Einige Menschen spendeten Beifall, andere lachten abfällig, dann erschallte eine donnernde Fanfare wie aus dem Nichts. Eine Blaskapelle, die Celia zuvor nicht bemerkt hatte, schmetterte eine blecherne Melodie. Die Trommeln schlugen den Takt oder versuchten es zumindest, und der Zug setzte sich schwerfällig in Bewegung. Florence und Eva Booth begannen in der ersten Reihe zu singen: »O have you not heard of a beautiful stream.«
Celia wusste nicht recht, was sie von all diesen Geschehnissen halten sollte, und wollte sich schon aus dem »schönen Strom« zurückziehen, doch ehe sie auch nur einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung machen konnte, wurde sie von der euphorisch singenden Menge mitgerissen. Inmitten des Zuges wurde sie unnachgiebig in Richtung Brick Lane geschoben. Während sie darauf achtete, niemandem in die Hacken zu treten und den tropfenden Fackeln oder heißen Öllampen nicht zu nahe zu kommen, schaute sie sich Hilfe suchend nach Adam um, doch der marschierte mit den Offizieren der Heilsarmee an vorderster Front und hätte, selbst wenn er es gewollt hätte, keine Möglichkeit gehabt, sich bis zu ihr durchzuschlagen. Ihr Blick glitt zu den Türen und erleuchteten Fenster der Häuser, die sie passierten, und nun begriff sie, was Heather mit dem »faulen Gemüse« gemeint hatte. Immer wieder wurde der singende Fackelzug aus den oberen Stockwerken mit Unrat und Dreck beworfen. Tomaten und Kohlköpfe flogen, Eier landeten auf den blauen Uniformen, einige Anwohner machten sich sogar einen Scherz daraus, unter lautem Grölen und Pfeifen ihre Nachttöpfe aus dem Fenster zu leeren. Die Marschierenden antworteten mit umso lauterem Gesang: »Come to the Savior, make no delay!«
Panik stieg in Celia auf, vor allem weil sich die Brick Lane nach Norden hin verjüngte und die Menschenmenge regelrecht zwischen den dunklen Häuserzeilen eingezwängt wurde. Warum hatte Adam sie nicht vorgewarnt? Warum hatte er nicht gesagt, was sie erwartete? Hatte er sich so sehr daran gewöhnt, mit Gemüse und Kot beworfen zu werden, dass er es nicht mehr der Rede wert befand? Celia wollte nur noch weg, raus aus diesem Irrsinn, doch es gab keinen Weg, den sie hätte einschlagen können. Sie musste sich treiben lassen und hoffen, dass sie, abgesehen von dem faulen Gemüse, das sie abbekommen hatte, unbeschadet am Ziel angelangen würde.
Als der Marsch nach etwa einer Viertelstunde in die noch schmalere und kaum von Straßenlaternen beleuchtete Church Street einbog, an deren Ende sich der Ten Bells Pub befand, hatte Celia das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Der stechende Geruch von Pech und Petroleum mischte sich mit dem Gestank der faulen Eier und der kotbeschmierten Mäntel. Celia hoffte, an der Straßenecke dem Zug entkommen zu können, deshalb drängte sie sich an empört und missbilligend dreinschauenden Menschen vorbei, denen sie versehentlich auf die Füße trat oder mit dem Ellbogen in den Bauch oder Rücken stieß.
Sie gelangte so bis an den Rand des Umzugs und fand sich in einer Gruppe von schwarz gekleideten Männern wieder, die sich von den übrigen Marschierenden merklich unterschieden. Keiner von ihnen trug die Uniform der Heilsarmee, dafür hatten die meisten von ihnen die Gesichter verdeckt; entweder durch schwarze Schals, die sie sich um die Ohren gebunden hatten, oder durch breite Schlapphüte, die so tief ins Gesicht gezogen waren, dass lediglich die Nasenspitze und das Kinn hervorschauten. Einige dieser Männer trugen seltsame Koffer oder Körbe mit sich, die sie mit Sacktuch verhängt hatten. Als Celia einen dieser Körbe ein wenig aus dem Weg schob, um sich vorbeizuzwängen, schrie sie plötzlich laut auf, sprang zur Seite und riss die Hand hoch. Irgendetwas hatte sie in den Finger gebissen oder gestochen.
Bei ihrer plötzlichen Bewegung hatte sie den Träger des Korbes angerempelt, wodurch dieser die Balance verlor und zur Seite wankte. Beinahe hätte er sich an der Petroleumlampe seines finster dreinschauenden Nachbarn das Gesicht verbrannt, doch im letzten Moment fand der Mann sein Gleichgewicht wieder. Dabei rutschte ihm der Schal, den er sich um das Gesicht gewickelt hatte, herunter.
»Verdammt, hast du keine Augen im Kopf?«, fauchte er Celia an.
»Entschuldigung«, murmelte sie, schaute in das hübsche Gesicht des jungen Mannes und erstarrte. Obwohl sich der Mann den Schal in Windeseile wieder umgelegt hatte, erkannte Celia das auffällige Muttermal auf seiner rechten Wange. Es hatte die Größe einer Half-Crown-Münze und die Form eines Herzens.
»Was gibt’s da zu starren, Mädchen?«, fauchte der Mann. Er funkelte Celia böse an, hielt dann aber, nun seinerseits erstaunt, plötzlich inne.
Celia erinnerte sich, dass er die gleichen Worte auch am gestrigen Abend am Bahnhof Waterloo benutzt hatte. Sie fragte: »Soll ich mich wieder schleichen, Sir?«
Im nächsten Augenblick wurde sie an der Hand gegriffen und zur Seite gezerrt. Und ehe Celia wusste, wie ihr geschah, war sie dem Zug entkommen. Adam hatte sie hinausgezogen. Der schwarz gekleidete Mann schaute sich noch einmal zu ihr um, bevor er samt Korb in der Menge verschwand, die sich wie eine Lawine weiter nach Westen wälzte.
»Ist das immer so bei euren Märschen?«, fragte sie Adam. Sie wartete seine Antwort nicht ab, wischte sich ein klebriges Salatblatt von der Schulter und beeilte sich, von der Straßenecke und dem unseligen Marsch der Heilsarmee fortzukommen.
Adam hielt ihre Hand fest und folgte ihr. »Tut mir leid«, antwortete er schuldbewusst. »Ich kann mir auch nicht erklären, warum die Leute so feindselig sind. Glaub mir, ich wusste nicht, dass es so schlimm wird. Normalerweise belassen sie es bei Spottgesängen. Ich wollte zu dir, aber in dem Gedränge war das nicht möglich. Geht’s wieder?«
Celia nickte, atmete tief durch und blieb stehen. Sie blickte dem Fackelzug hinterher, dessen letzte Teilnehmer gerade in die Church Street einbogen. Einige Kinder nahmen das liegen gebliebene Gemüse von der Straße und machten sich einen Spaß daraus, es den unverdrossen Singenden und Marschierenden hinterherzuwerfen. Ein Stück Sacktuch, das auf dem Pflaster lag, erinnerte Celia an den vermummten Mann mit dem verhängten Korb. Ihr Zeigefinger blutete ein wenig an der Kuppe, und die Wunde brannte.
In diesem Moment bemerkte auch Adam die Blessur. »Was ist passiert?«, fragte er und hob ihren Finger ins Licht der Straßenlaterne. »Du blutest ja. Hast du dich verletzt?«