»Es ist nichts«, antwortete Celia geistesabwesend und entwand ihm ihre Hand. Der Mann mit dem Muttermal auf der Wange wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Gestern war er wie ein Gentleman gekleidet gewesen, mit Biberfell-Zylinder und edlem Gehrock, und hatte den Droschkenkutscher angewiesen, zur vornehmen Piccadilly in Westminster zu fahren. Heute hingegen lief er im ärmlichen East End in einer Tracht aus einfachem Manchester-Stoff herum, die an grobe Zimmermanns-oder Seemannskleidung erinnerte. Hätte Celia nicht das Muttermal gesehen und das Erkennen im Blick des Fremden, so hätte sie vermutlich gedacht, zwei verschiedene Männer getroffen zu haben. Doch es konnte kein Zweifel bestehen: Der Gentleman und der Schwarzgekleidete waren ein und dieselbe Person. Celia fühlte sich an die Schauernovelle von Dr. Jekyll und Mr. Hyde erinnert, die ihre Mutter vor einiger Zeit aus der Pfarrbücherei entliehen hatte und in der es um eine ähnliche Wandlung eines vornehmen Gentlemans gegangen war. Die Geschichte hatte ihrer ohnehin geschwächten Mutter nächtelang den Schlaf geraubt.
»Komm!«, riss Adam sie aus ihren Gedanken und deutete nach Norden, zur Hanbury Street. »Ich bringe dich zurück ins Heim.«
»Gibt es von hier aus keinen anderen Weg zum Ten Bells Pub?«, erwiderte sie und rührte sich nicht vom Fleck.
»Doch, den gibt es«, antwortete er überrascht. »Wir könnten den Umweg über die Hanbury Street gehen oder den direkten Weg über den Friedhof von Christ Church. Der reicht nämlich bis zur Brick Lane. Gleich da vorne befindet sich der Hintereingang. Wieso fragst du?«
»Begleitest du mich?«
»Über den Friedhof?«
»Macht es dir etwas aus?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte er und wies auf eine unscheinbare Eisenpforte zwischen zwei backsteinernen Häusern, die nur einen Steinwurf von der Straßenecke entfernt war. »Ich verstehe bloß nicht.«
»Ich auch nicht«, entgegnete Celia und lachte unwillkürlich. Vielleicht weil sie sich selbst nicht eingestehen wollte, dass der junge Mann mit dem Muttermal der eigentliche Grund ihres seltsamen Handelns war.
Adam sah sie verwirrt an und schien einen erneuten Ausbruch zu befürchten, doch dann zuckte er mit den Schultern und meinte: »Es freut mich, dass du so erpicht darauf bist, Schwester Eva reden zu hören. Du wirst es nicht bereuen. Komm mit!«
Celia verschwieg, dass es nicht die Redekunst der Heilsarmistin war, deretwegen sie zum Ten Bells Pub wollte. Sie war sich auch nicht sicher, ob sie ihre Entscheidung nicht in Kürze bereuen würde. Dennoch folgte sie Adam über die Straße und zum Hintereingang des Kirchhofs.
Direkt hinter der Eisenpforte begann eine kopfsteingepflasterte Passage, die zwischen zwei hohen Mauern zum rückwärtigen Teil des Friedhofs führte. Zwischen den Häusern war es stockdunkel, doch als sie den Totenacker betraten, erkannte Celia im milchigen Licht des Vollmondes, dass dies der ärmere Teil des Geländes war, in dem auch Adams Frau und sein Kind begraben lagen. Hastig liefen sie über den menschenleeren Friedhof, und erneut fiel Celia auf, wie unwirklich und seltsam verwunschen er wirkte. Bei Nacht noch mehr als am Tage.
Als die beiden um die Kirche herumgelaufen und zum Vordereingang hinausgetreten waren, wurden sie auf dem Platz vor dem Kirchenportal von einem ohrenbetäubenden Konzert aus schiefer Blasmusik, inbrünstigem Gesang, missfälligem Pfeifen, belustigtem Grölen sowie lautstark skandierten Parolen empfangen. Der Fackelzug war am Ten Bells angekommen, und es war für Celia offenkundig, dass sich dort vor der Schänke etwas zusammenbraute. Je lauter die Gaffer herumpöbelten, desto eifriger sangen die Anhänger der Heilsarmee: »Joyful, joyful will the meeting be!« Je gellender das Pfeifen und Krakeelen wurde, desto schriller tönten die Bläser und desto heftiger hämmerten die Trommeln. Es war ein einziger, immer lauter werdender Missklang.
Adam führte Celia über einige Steinstufen zum höher gelegenen Säulenportal der Kirche, wo sich bereits andere Neugierige eingefunden hatten, um das zu erwartende Spektakel aus sicherer Entfernung verfolgen zu können. Celia und Adam drängten sich zwischen die Zuschauer, die auf einer breiten Mauer zwischen den Sockeln der Säulen standen und von ihrem Standpunkt aus sowohl den Fackelzug wie auch das Ten Bells im Blick hatten.
Während Celia und Adam sich ihren Platz suchten, beendete die Kapelle ihr musikalisches Getöse. Nun war es an Schwester Eva, ihre Predigt zu beginnen. Die Heilsarmistin stand auf einem kleinen hölzernen Podest mitten auf der Straße. Die zierlichen Hände zum Himmel gestreckt, als wollte sie den Herrn um Hilfe ansuchen, rief sie gegen den Lärm der Menge an: »Oft werde ich gefragt: ›Eva, warum predigst du auf der Straße vor den Elenden und Ärmsten, vor den Sündern und Trinkern, die dich obendrein mit Spott und Häme überschütten?‹«
Vereinzelt ließ sich höhnisches Gelächter vernehmen. Doch Eva ließ sich nicht beirren, schwenkte ihre Fackel wie ein Feuerschwert und fuhr fort: »Ich kann ihnen nur antworten, was ich auch euch zurufen möchte: Gott ist für ausnahmslos alle Menschen da, nicht nur für die Reichen und Glücklichen, sondern erst recht für die Armen und Ausgestoßenen. Wir Soldaten des Heils wollen uns nicht in Kirchen verschließen und hinter sogenannten Sakramenten verstecken, die zum bloßen Ritual verkommen sind, sondern wir wollen dorthin gehen und kämpfen, wo wir benötigt werden. Um uns den Menschen zu widmen, die uns wirklich brauchen.«
»Hier braucht euch niemand!«, schrie jemand aus einem Fenster im ersten Stockwerk des Ten Bells.
»Bist du da so sicher, Bruder?«, rief Eva und strahlte, als hätte sie nur auf diesen Einwand gewartet. »Mich braucht ihr vielleicht nicht, wohl aber den Herrn im Himmel. Denn Jesus Christus ist unser Retter. Er ist für uns gestorben, durch seinen Tod am Kreuz hat er uns allen die Erlösung gebracht.« Sie lachte plötzlich wie ein Kind und rief: »Nun, wenn das keine gute Nachricht ist! Eine bessere kenne ich jedenfalls nicht.«
Während Adam neben ihr in das Lachen einstimmte, als hätte Eva einen Witz erzählt, und dabei aufgeregt Celias Hand so fest drückte, dass es sie beinahe schmerzte, hielt Celia unauffällig Ausschau nach den schwarz gekleideten Männern mit den Körben. Doch trotz des hellen Mondlichts war kaum etwas zu erkennen. Auch der Gentleman von der Waterloo Station war nirgends zu sehen.
»Es geht nicht darum, was ihr auf Erden an Leistungen erbringt oder wie viel Geld und Vermögen ihr zusammenrafft«, fuhr Eva derweil in ihrer Predigt fort. »Euer Geld wird an der Himmelspforte nichts mehr wert sein. Entscheidend ist, ob ihr an den Erlöser glaubt. Denn alle, die an ihn glauben, werden gerettet.« Sie beugte sich vor, wandte sich direkt an diejenigen, die dem Podest am nächsten standen, und rief triumphierend: »Ich wiederhole es noch einmaclass="underline" Alle werden gerettet, egal welchen Rang oder welches Geschlecht sie haben. Wichtig ist allein der Glaube. Ihr werdet alle gerettet werden.«
»Wenn das so ist, warum gehst du dann nicht nach Hause, Schätzchen?«, brüllte ein schwarz gekleideter Mann. »Wenn wir ohnehin gerettet sind, ist ja alles in Butter.«
Einige der Umstehenden lachten und klatschten belustigt in die Hände.
»Dummer Kerl!«, schimpfte Adam.
Für einen kurzen Augenblick glaubte Celia, der Schwarzgekleidete könnte der Mann mit dem Herz auf der Wange sein, doch seine Stimme hatte viel tiefer geklungen, und er war mindestens einen Kopf kleiner als der geheimnisvolle Fremde aus der Droschke. Allerdings trug auch dieser Mann einen mit Tuch verhängten Korb in der Hand.
»Ihr müsst natürlich den Glauben zur Tat werden lassen«, fuhr Eva energisch fort und drehte sich auf dem Podest einmal im Kreis. »Wenn ihr an den Erlöser glaubt, könnt und werdet ihr nicht länger den Götzen dienen. Nicht dem Alkohol und nicht der Hurerei. Nicht der Prasserei, der Unzucht und nicht dem Verbrechen. Wenn ihr an Jesus, den Erlöser, glaubt, werdet ihr anders handeln und bessere Menschen sein, und das Himmelreich wird euch offenstehen. Allein durch euren Glauben. Weil euch dann das Heil sicher ist.«