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»Das verstehe ich nicht«, rief ein Mann mit Schlapphut, der direkt an der schmalen Stiege stand, die zum Podest hinaufführte. »Wie kann der Glaube irgendetwas verändern? Wenn ich glaube, dass es morgen regnet, bedeutet das noch lange nicht, dass es tatsächlich regnet. Wie kann der Glaube Berge versetzen? Das klingt zwar tröstlich, aber es will mir nicht in den Kopf.«

»Dann benutze stattdessen dein Herz!«, erwiderte Eva, ging zu dem Mann und legte ihre Hand auf seine Schulter. »Der Glaube ist keine Sache des Kopfes, sondern des Herzens. Du musst ihn fühlen, mein Bruder!«

Celia hielt den Atem an. Sie hatte die Stimme des Mannes mit dem Schlapphut erkannt. Und sie sah weitere schwarz gekleidete Männer, die sich dem Podest genähert hatten und einen Ring darum bildeten.

Der Mann mit dem Schlapphut schien nach Evas Hand greifen zu wollen, doch im nächsten Augenblick wich er zurück, nahm den Hut vom Kopf und zog sich den Schal aus dem Gesicht.

Eva lächelte, als hätte sie einen Sieg errungen, und hielt ihre Fackel vor sein Gesicht. Doch im nächsten Moment fuhr sie erschrocken zurück. Sie starrte den Mann an, als hätte sie den Leibhaftigen vor sich stehen.

»Hat’s dir die Stimme verschlagen?«, erscholl es aus der Schänke.

»Willst du uns nicht sagen, was wir tun sollen?«, rief jemand auf der Straße.

Eva hatte sichtlich Mühe, ihre Fassung wiederzufinden und den Blick von dem jungen Mann abzuwenden, der seinerseits wie verhext dastand. Schließlich schaute sie zum Himmel und rief: »Ich bin kein hochmütiger Theologe, ich will euch nicht befehlen, was ihr zu denken habt. Das überlasse ich den Besserwissern dort drüben.« Sie deutete zur Christ Church und setzte hinzu: »Glaubt an den Erlöser, und ihr werdet unweigerlich gerettet!«

»Und den Glauben sollen wir zur Tat werden lassen?«, kam von irgendwoher eine schneidende Männerstimme.

»Jawohl, den Glauben zur Tat werden lassen!«, bestätigte Eva und schaute sich suchend um. »So ist es! Nicht das Wort zählt, sondern die Tat.«

»Dann genug der Worte! Schreitet zur Tat, Männer!« Der Befehl schien direkt aus dem Himmel zu kommen. Als Celia den Kopf hob, sah sie mehrere Schatten auf dem Dach der Schänke, und im nächsten Augenblick brach ringsum die Hölle los.

Die Menge schrie auf, als mehrere Männer Banner und Fahnen entrollten und an langen Stäben in die Luft hielten. Auf einem dieser Banner waren ein Totenkopf und zwei gekreuzte Gebeine zu sehen, auf einem anderen erkannte Celia zwei Särge und darüber die Worte: »Blut und Donner«.

»Die Skeletons!«, rief Adam neben ihr.

»Wer?«, fragte Celia.

»Die Skeleton Army!«, antwortete Adam. »Bezahlte Schläger und Rüpel, die nichts anderes als Gewalt und Chaos im Sinn haben.«

»Wer bezahlt sie denn dafür?«, wunderte sich Celia.

»Die Wirte und Bordellbesitzer!«, rief Adam aufgebracht. »Wer sonst?«

Plötzlich flogen Lumpen und Stofffetzen vom Dach des Ten Bells und landeten mit seltsam klatschendem Geräusch auf den Teilnehmern des Fackelzugs. An den hellen Flecken auf den Kleidern konnte Celia erkennen, dass sie mit weißer Farbe oder Löschkalk getränkt waren. Bewegung kam in die lärmende Menge, doch die Heilsarmisten waren zwischen Kirche und Schänke wie eingezwängt. Und am Ende der Straße standen schwarz gekleidete Männer, die mit Knüppeln und langen Stäben dafür sorgten, dass niemand auf die Hauptstraße entkam.

Direkt neben dem Podest, auf dem Eva noch immer wie vom Blitz getroffen verharrte, entstand plötzlich ein noch größerer Tumult. Die Schwarzgekleideten, die dort einen Ring gebildet hatten, waren inzwischen ebenfalls zur Tat geschritten und hatten das, was sich in den Körben befunden hatte, freigelassen. Mit einem Mal wurden entsetzte Aufschreie laut: »Ratten! Pfui Teufel, wo kommen die vielen Ratten her! Weg da! Igitt!« Das Schreien der Menschen mischte sich mit dem Fiepen und Quieken der panischen Tiere, die umherrannten und in ihrer Not um sich bissen oder an den Beinen der Leute hochsprangen, was den allgemeinen Tumult noch verstärkte. Menschen prallten gegeneinander; manche von ihnen stürzten, andere trampelten und stolperten über die Gestrauchelten hinweg.

Inmitten des Durcheinanders und Geschreis verharrten zwei Menschen regungslos, als hätten sie Wurzeln geschlagen. Schwester Eva verharrte reglos wie eine Statue auf ihrem Podest. Ihr gegenüber, am Fuß der Stiege, stand der Mann mit dem Herz auf der Wange und schaute unverwandt zu ihr hinauf. Celia sah, dass der Korb in seiner Hand immer noch mit einem Sacktuch verhängt war.

Selbst als Lehmklumpen und Steine vom Dach der Schänke flogen und die Leute ihren Kopf einzogen und in Deckung gingen, stand Eva Booth noch wie ein Fels in der schäumenden Brandung und schaute um sich, als könnte sie nicht begreifen, was vor sich ging. Doch plötzlich wurde sie von einem Stein an der Stirn getroffen. Die Predigerin wankte, ließ die Fackel fallen, und für einen Augenblick sah es so aus, als würde sie vom Podest stürzen.

Adam stieß einen Schrei aus. Als Celia ihn anschaute, bekam sie einen nicht geringen Schreck. In seine Augen war ein bedrohliches Funkeln getreten, das so gar nicht zu dem besonnenen und gutmütigen Mann passte, als den sie Adam bislang kennengelernt hatte. Der Ausdruck in seinem Gesicht erinnerte sie an die Raserei ihres Vaters, wenn er sich volltrunken und vor Wut schnaubend auf ihre Mutter gestürzt hatte.

Adam war völlig außer sich. Noch bevor Celia ihn zurückhalten konnte, sprang er kurzerhand von der Mauer ins Getümmel, obwohl es für ihn kaum eine Möglichkeit gab, sich bis zum Podest durchzukämpfen.

Dabei schien es gar keine Notwendigkeit für sein Eingreifen zu geben. Der Mann mit dem Korb war bereits die Stufen hinaufgesprungen, um Eva aufzufangen. Doch dann geschah etwas Seltsames: Die Heilsarmistin, der das Blut übers Gesicht lief, fand das Gleichgewicht wieder, schüttelte sich, als wäre sie aus einem Traum aufgewacht, und verpasste dem Mann, der ihr zu Hilfe kommen wollte, eine schallende Ohrfeige, sodass dieser rücklings vom Podest fiel und auf dem eigenen Korb landete. Das Weidenholz splitterte, die Ratten sprangen heraus und stürzten sich auf den Mann, als wollten sie ihn auffressen. Celia hörte ihn schreien.

Im nächsten Augenblick spürte Celia eine Hand auf ihrer Schulter. Als sie erschrocken herumfuhr, schaute sie in das grinsende Gesicht von Heather.

»Was für ein Spektakel!«, sagte Heather. »Hab nicht zu viel versprochen, oder?« Ihre Wangen waren gerötet, der Blick war glasig, und ihr Atem roch nach Alkohol. »Aber jetzt lass uns verschwinden, Kindchen! Bevor die Ratten kommen. Hab keine Lust auf die Mistviecher!«

»Wo willst du hin?«, fragte Celia.

»Nach Shoreditch.«

»Jetzt?«

»Warum nicht?« Heather zuckte mit den Schultern. »Es ist ja nicht weit. Wenn wir uns beeilen, kommen wir noch rechtzeitig zur zweiten Vorstellung. Aber du zahlst.«

Celia zögerte, doch Heather hatte sie bereits an der Hand gefasst und zog sie hinter sich her, die Stufen hinunter.

»Nun zier dich nicht so!«, rief Heather. »Kostet ja nur ’nen Penny.«

Celia nickte und fügte sich in ihr Schicksal.

ZWEITER TEIL

RUPERT INGRAM

»In real life, how many men and women fall in love?

Not one in every ten thousand, I am convinced. Not one married pair in ten thousand have felt for each other as two or three couples do in every novel. There is the sexual instinct, of course, but that is quite a different thing; the novelists daren’t talk about that.«