(»Wie viele Männer und Frauen verlieben sich im wirklichen Leben? Nicht einer von zehntausend, davon bin ich überzeugt. Nicht eines von zehntausend Ehepaaren hat jemals füreinander empfunden, was zwei oder drei Paare in jedem Roman füreinander empfinden. Es gibt natürlich den sexuellen Trieb, aber das ist etwas völlig anderes; darüber wagen die Romanschriftsteller nicht zu reden.«) George Gissing, »The Odd Women«, 1892
DONNERSTAG, 18. OKTOBER 1888
1
Wie immer, wenn ich von Dorking nach London zurückkehrte, hatte ich fürchterlich schlechte Laune. Die Donnerstage in Bury Hill waren mir ein Graus, und obwohl Meredith nichts Besonderes getan hatte, um meinen Unwillen zu erregen, machte ich sie dennoch für meine üble Stimmung verantwortlich. Einfach weil es sie gab und ich gezwungen war, mich mit ihr zu befassen. Das war höchst ungerecht, dessen war ich mir durchaus bewusst, aber ich konnte es nicht ändern. Manchmal wünschte ich mir fast, es wäre bereits Dezember und ich mit Meredith verheiratet, und sei es nur, um nicht länger vorgeben zu müssen, mich für sie zu interessieren. Als Mann und Frau würden wir zwar unter einem Dach leben, uns aber dennoch gegenseitig aus dem Weg gehen können – zumindest hatten es meine Eltern in dieser Disziplin zu einer wahren Meisterschaft gebracht. Als Verlobten wurde uns dieses eheliche Vorrecht jedoch nicht zugebilligt. Noch galt es, den Schein zu wahren und das holde und glückselige Paar zu mimen, obwohl allen bewusst war, dass die Ehe nur zustande kam, weil unsere Eltern es aus geschäftlichen Gründen für opportun befunden hatten.
Meredith war ein nettes und durchaus hübsches Mädchen, und ganz sicher war sie nicht dümmer als andere Backfische ihres Alters. Womöglich war sie mir sogar in echter Zuneigung zugetan, aber leider war sie genauso langweilig und ermüdend wie die obligatorische Partie Krocket, die ich bei jedem Besuch spielen musste. Mitunter wünschte ich mir, wenn ich mich auf den Weg zu dem herrschaftlichen Anwesen in Dorking machte, dass es den ganzen Tag wie aus Kübeln regnen möge. Auf diese Weise würde ich wenigstens um das vermaledeite Rasenspiel herumkommen.
An diesem Donnerstag hatte es mich besonders hart getroffen. Nicht nur hatte ich Meredith, um ihr eine Freude zu machen, wie üblich beim Krocket gewinnen lassen, zu allem Überfluss war ich nach dem Lunch auch noch von ihrem Onkel, Robert Barclay, in die Bibliothek gebeten worden, um bei einer Zigarre und einem Glas Sherry über Southwarker Bier zu sprechen. Ich hatte durchaus nichts gegen Bier einzuwenden. Anders als manche meiner Freunde war ich mir keineswegs zu fein für Porter, Stout und Ale, und viele der zahlreichen Sorten, die von Barclay, Perkins & Co. in Southwark gebraut wurden, schmeckten mir durchaus. Allerdings bevorzugte ich es, Bier zu trinken und nicht darüber zu reden. Mich interessierte es nicht, ob Biere ober-oder untergärig waren, wie viel Hopfen und Malz sie enthielten, wie ihr Export nach Russland verlief und ob das Flaschenbier dem Fassbier vorzuziehen sei.
Mr. Barclay war ungemein stolz auf seine Brauerei, und das konnte ich ihm nicht einmal verdenken, schließlich gehörte sie zu den größten und umsatzstärksten in England, wenn nicht der ganzen Welt. Doch die ständigen Lobhudeleien, die von mir erwartet wurden, ermüdeten mich beinahe ebenso wie das stümperhafte Krockieren, das ich mir angewöhnt hatte, um Meredith den Spaß am Gewinnen nicht zu nehmen. Die Familie Barclay, obwohl seit Generationen eine der reichsten im Lande, schien der ständigen Bestätigung zu bedürfen und sich nicht darum zu scheren, ob das Lob von Herzen kam. Und vielleicht bestand der eigentliche Grund für meine schlechte Laune in der Tatsache, dass ich diese Schmierenkomödie immer wieder mitspielte und den Barclays wie ein Speichellecker nach dem Mund redete. Und alles nur, um meinem Vater einen Gefallen zu tun. Beziehungsweise, um ihm zu gehorchen.
Was war ich doch für ein erbärmlicher Feigling! Dieser quälende Gedanke ging mir zum wiederholten Mal durch den Kopf, als der Zug aus Dorking in den Bahnhof Waterloo einfuhr. Ich verließ eilenden Schrittes die Gleise und bestieg auf dem Vorplatz eine Kutsche. Dabei stieß ich ein ärmlich gekleidetes Mädchen ziemlich rüpelhaft zur Seite. Für einen kurzen Moment tat mir meine Grobheit leid, doch in meiner trüben Stimmung hielt dieser Gedanke nicht lange an. Was stand das Mädchen auch so ungeschickt mit seinem billigen Koffer in der Gegend herum und versperrte mir den Weg? Zum Teufel mit ihm! Darum knurrte ich das Mädchen an, es solle sich schleichen, nannte dem Kutscher das Ziel der Fahrt, bestieg das Hansom Cab und warf mich in den Polstersitz.
»Ist aber ’n weiter Weg nach Whitechapel«, hörte ich den Kutscher sagen. »Keine Gegend für ’ne hübsche junge Miss. Schon gar nicht im Dunkeln.«
Erstaunt lehnte ich mich nach vorn und schaute aus dem Fenster.
»Danke, Sir! Ich komme schon zurecht«, entgegnete sie.
Ich betrachtete das Mädchen und konnte mir nicht recht erklären, warum ich mich für das auf den ersten Blick unscheinbare Ding plötzlich interessierte. Allein die Erwähnung des Stadtteils Whitechapel konnte es kaum sein, auch wenn meine Beziehung zum Londoner East End eine zugegebenermaßen sehr spezielle war. Und ihr Aussehen war es bestimmt nicht. Das Mädchen wirkte wie eine Dienstmagd oder Fabrikarbeiterin. Mit ihren braunen Kleidern und der mausgrauen Haube erinnerte sie mich an ein Aschenputtel. Allerdings hatte sie ein auffallend hübsches Gesicht, zwar allzu blass und schmächtig, aber durchaus anziehend. Vor allem ihre großen dunklen Augen fielen mir auf. Ich ertappte mich bei dem albernen Gedanken, wie das Mädchen wohl in einem Ballkleid und goldenen Pantoffeln aussehen würde.
»Wie alt bist du, Mädchen?«, fragte ich, während ich irritiert aus dem Fenster starrte.
»Sechzehn, Sir.«
»Sechzehn«, wiederholte ich, während sich die Kutsche in Bewegung setzte und ich das Mädchen aus den Augen verlor.
Zum Teufel mit ihr!, schimpfte ich innerlich mit mir. Im nächsten Augenblick hatte ich das Aschenputtel vergessen.
Etwa zwanzig Minuten später hatte sich die Kutsche durch den stockenden und chaotischen Feierabendverkehr bis zur Piccadilly durchgekämpft, und ich betrat im Laufschritt das Hotel meines Vaters, ohne dass sich meine Laune merklich gebessert hätte.
Das Hatchett’s Hotel, das seit Generationen im Besitz meiner Familie war, aber aus Gründen der Tradition und der demonstrativ zur Schau gestellten Bescheidenheit nicht Ingram’s hieß, sondern immer noch den Namen des einstigen Gründers, Abraham Hatchett, trug, war eigentlich ein durchaus erbaulicher Anblick. Das fünfstöckige Haus war erst vor wenigen Jahren von Grund auf renoviert und innen wie außen herausgeputzt worden. Die Fassade war ringsum mit allerlei Ornamenten, verzierten Erkern und barock wirkenden Schweifgiebeln versehen, und auch im Inneren hatte das Hotel neben dem üblichen luxuriösen Interieur alles zu bieten, was der gehobene Gast von einer feinen Adresse im West End erwarten durfte: elektrisches Licht auf allen Zimmern, Telefonanschluss im Salon und in der Lobby sowie ein elektrischer Aufzug, auf den mein Vater besonders stolz war, weil er über automatisch schließende Sicherheitstüren verfügte. Die meisten der Suiten verfügten seit dem Umbau sogar über einen eigenen Wasseranschluss im Bad. Und dennoch hatte ich stets ein mulmiges und unbehagliches Gefühl, wenn ich das Gebäude betrat. Ich hatte meine Kindheit und Jugend in diesem Hotel verbracht, in dem ich mir immer wie ein notgedrungen geduldeter, nicht zahlender Gast vorgekommen war. Überhaupt hatte ich nie begriffen, warum Vater stets darauf bestanden hatte, in seinem Hotel zu wohnen. Von der Miete, die er für die privat benutzten Suiten bekommen hätte, hätte er sich ein eigenes Haus in der Nähe halten können. Doch Vater war mit dem Hotel wie verwachsen, für ihn war das Hatchett’s der Lebensmittelpunkt. Sein Ein und Alles.
»Guten Abend, Sir«, wurde ich von Bellamy, dem alten Hauptportier, in der Lobby begrüßt. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.« Er verneigte sich und nahm mir Mantel und Zylinder ab. »Ihr Herr Vater wartet bereits auf Sie.«