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»Southwark?«, wunderte ich mich. »Was ist damit?«

»Ich meine die Brauerei. Barclay und Perkins. Du weißt schon.«

Ich wusste nicht, nickte aber dennoch.

»Sehr gut, jawohl!«, rief er erleichtert. »Das freut mich ungemein, dass ihr euch einig geworden seid. William hat auch nichts dagegen einzuwenden.« Dann setzte er plötzlich eine gequälte Miene auf, deutete auf die Zigarette in meiner Hand und fragte: »Musst du immer dieses grässliche Kraut rauchen? Ich hab dir doch zu deinem Geburtstag eine Kiste Habanos geschenkt. Diese stinkenden ägyptischen Papierstängel sind was für Soldaten und Sozialisten.«

»Mir schmecken sie.« Ich wartete auf Weiteres, doch er schien meine Anwesenheit bereits wieder vergessen zu haben und beugte sich über irgendwelche Papiere auf seinem Schreibtisch. Es sah aus wie das Londoner Telefonbuch. Ich wandte mich zur Tür und fragte: »Gibt es sonst noch was? Ich bin müde und würde mich gern hinlegen.«

Mein Vater fuhr aus seinen Gedanken hoch, schaute verwirrt drein und hob abwehrend die Hände. »Wir reden morgen weiter. Ruh dich erst einmal aus, mein Junge.« Er machte ein Gesicht, als wäre er sehr zufrieden mit sich. »Wir reden morgen.«

Stirnrunzelnd verließ ich das Büro und schloss die Tür. Von draußen hörte ich die laute Stimme meines Vaters: »Ja, hallo! Geben Sie mir bitte Mayfair 369!«

»Einig geworden«, gingen mir seine Worte durch den Kopf. Was hatte er bloß damit gemeint? Und wogegen hatte William nichts einzuwenden?

2

Obwohl nur einen Steinwurf vom Hatchett’s Hotel entfernt, unterschied sich das Crown Hotel in der Dover Street doch merklich vom Etablissement an der Piccadilly. Während sich das Hatchett’s über die Jahrhunderte aus einer alten Postkutschenstation und Schänke zu einer feinen Adresse entwickelt hatte und gerade nach der Renovierung beinahe aufdringlich als luxuriöses Hotel mit großem Empfangsbereich erscheinen wollte, war das Crown ein etwas fadenscheinig umgebautes Wohnhaus, das von außen mit seiner dunklen Backsteinfassade recht unscheinbar und im Inneren allzu unübersichtlich wirkte. Zwar gab es auch hier eine Rezeption und einen Salon samt Speisesaal, doch das Hotel machte einen improvisierten und unfertigen Eindruck. Eben wie ein Wohnhaus, das vor einigen Jahren notdürftig und ohne großen baulichen Aufwand den neuen Aufgaben angepasst worden war.

Offiziell führte ich gemeinsam mit meinem zweitältesten Bruder William das Hotel, doch in Wirklichkeit überließ ich William nur zu gern und bereitwillig Leitung und Verantwortung und beschränkte meine Tätigkeit aufs Repräsentieren und Parlieren. William war ohne jeden Zweifel der begabtere Geschäftsmann und geschicktere Organisator von uns beiden und hatte mich quasi vom Vater aufs Auge gedrückt bekommen, um mir eine sinnvolle und charakterbildende Beschäftigung zu verschaffen. William hatte sich auf diesen Kuhhandel vermutlich nur deshalb eingelassen, weil er selbst – wie er sehr wohl wusste – auf andere Menschen einen eher spröden und wenig gewinnenden Eindruck machte und sich lieber um die Bücher und Finanzen als um die Klientel und das gesellschaftliche Leben während der lärmenden Londoner Saison kümmerte. In gewisser Weise waren wir Brüder, so grundverschieden wie wir waren, eine Symbiose eingegangen, zum gegenseitigen Nutzen und Vorteil. William, der enorm fleißig war und dem die tägliche Kärrnerarbeit nichts auszumachen schien, war die Seele und das Hirn des Hotels, ich fungierte gewissermaßen als Aushängeschild und Visitenkarte.

Für mich hatte die nicht gerade zeitraubende Tätigkeit im Crown Hotel den Vorteil, dass ich eine eigene, wenn auch recht schlichte Wohnung unter dem Dach besaß, die ich über einen getrennten Zugang zum unbewohnten Dachboden des Hinterhauses betreten konnte, ohne dem Empfangsbereich des Hotels zu nahe zu kommen. Die von William angebotenen Zimmer im ersten Stock hatte ich dankend abgelehnt. Die Mansarde reiche mir vollends, hatte ich mit betonter Bescheidenheit behauptet. Ruhe und Ungestörtheit seien mir wichtiger als eine vorzeigbare Suite oder ein Telefonanschluss. Auch auf elektrisches Licht und fließendes Wasser könne ich gut verzichten. Dass mir die Nähe zu den Dienstmädchen, die, nur durch eine Schiebewand von mir getrennt, im selben Stockwerk wohnten, nicht ganz ungelegen kam und für allerlei Abwechslung zu sorgen versprach, hatte ich tunlichst verschwiegen.

William, selbst ein eher biederer Bürger und Ehemann, schien mich für einen verhinderten Künstler und verkappten Dandy zu halten. Er betrachtete das Wohnen unterm Dach als eine der vielen Marotten seines kleinen Bruders und hinterfragte diese seltsamen Schrullen nicht. Ihm war alles recht, solange ich ihm beim Tagesgeschäft nicht ins Handwerk pfuschte und stattdessen bei den obligatorischen Diners und Empfängen eine gute Figur abgab und das Crown Hotel als junges, aufstrebendes, aber nicht zu kostspieliges Hotel für Geschäftsleute und Familien im Gespräch hielt.

Als ich die winzige Lobby des Hotels betrat, kam mir Gray, einer der beiden Laufburschen, entgegen und begrüßte mich freudig: »’n Abend, Boss.«

»Guten Abend, Sir«, verbesserte ich und schlug dem Jungen mit meinen weißen Handschuhen spielerisch auf den Kopf. »Wann lernst du das endlich, Gray? Du musst auf deinen Mund aufpassen!«

»’tschuldigung, Boss«, antwortete Gray. »Werd’s mir merken. Ist aber nicht so einfach. Mein Mund macht nämlich nicht immer, was ich will, Boss … äh … Sir!«

Ich schüttelte den Kopf und war froh, dass William nicht Zeuge der Begrüßung gewesen war. Auch der kleine Gray war, wenn man so wollte, eine meiner eigenwilligen Marotten. Ich hatte den fünfzehnjährigen Jungen, der eigentlich Graham Maggott hieß, vor einigen Monaten in einer Schänke in Spitalfields aufgelesen und aus einer Laune heraus als Laufburschen und Handlanger fürs Crown Hotel rekrutiert, obwohl er als ungehobelter Schankjunge nicht die geringste Eignung für eine Tätigkeit in einem Hotel im West End besaß. Ich wusste selbst nicht genau, wieso mir der Junge auf Anhieb so ans Herz gewachsen war. Vielleicht war es die unbekümmerte und offenherzige Art des Bengels gewesen, die mich ebenso erstaunt wie erheitert hatte. Womöglich hatte ich aber auch nur Mitleid mit dem Kleinen gehabt, denn Gray war durch ein riesiges, bläulich schimmerndes Muttermal entstellt, das fast seine gesamte linke Gesichtshälfte überzog. Schließlich wusste ich, was es bedeutete, mit einem auffälligen Leberfleck bestraft zu sein. Auch wenn mein Wangenherz nicht annähernd so verunstaltend war wie Grays blaue Gesichtshälfte.

Als mein Bruder den Jungen zum ersten Mal gesehen hatte, war er vor Zorn beinahe explodiert und hatte »die hässliche Fratze«, wie er ihn nannte, aus dem Haus werfen wollen. Doch ich hatte darauf bestanden, dem Jungen eine Chance zu geben, und meinen Bruder schließlich mit dem Argument geködert, einem Burschen wie Gray nur die Hälfte des üblichen Lohns zahlen zu müssen. Gray hatte seine Chance bekommen und sie wider Erwarten genutzt, denn was ihm an Bildung, Manieren und Höflichkeit abging, das machte er mit Eifer und unbedingter Ergebenheit wett. Und der halbe Lohn war immer noch um einiges höher als das Hungergeld, das er zuvor im Ten Bells Pub verdient hatte.

»Wo ist mein Bruder?«, wandte ich mich an den Laufburschen.

»In der Küche«, antwortete Gray. »Er streitet mit dem Metzger über die Rechnung. Der Boss sagt, dass Mr. Morrison ihn übern Tisch gezogen hat, und Mr. Morrison sagt, dass der Boss ihn übern Tisch ziehen will.« Er zwinkerte mir verschwörerisch zu und meinte: »Ich glaube, der Metzger hat recht und der Boss wird ’nen ordentlichen Rabatt raushandeln.«

»Sähe ihm ähnlich«, bestätigte ich lächelnd und wurde im nächsten Moment ernst. »Warum bist du überhaupt hier vorne, Gray? Du weißt doch, dass du dich nicht ungefragt in der Lobby blicken lassen sollst.« Ich schaute zur Rezeption, die jedoch in diesem Augenblick nicht besetzt war, und befahclass="underline" »Scher dich ins Dienstbotenzimmer, bevor dich jemand sieht!«