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Gray schaute zu Boden, als wollte er sein Gesicht verstecken. »Ich hab Sie kommen sehen und wollte nur Bescheid geben, dass der Verrückte wieder da war und nach Ihnen gefragt hat.«

»Welcher Verrückte?«

»Der Verrückte von St. Giles. Der bärtige Glatzkopf mit den komischen Augen und den bunten Fingern.« Er blickte kurz auf und gleich wieder nach unten. »Er hat gesagt, er hat was für Sie. Und Sie sollen’s sich gleich anschauen. Er ist heut Abend am üblichen Ort, hat er gemeint.«

»War er nüchtern?«

»Gezittert hat er wie Espenlaub«, sagte Gray. »Scheint lange nichts getrunken zu haben. Hat gesagt, es wär eilig. Und es würd sich für Sie lohnen.«

»Danke, Gray«, erwiderte ich und schüttelte abwehrend den Kopf, als er mir Mantel und Hut abnehmen wollte. »Das bleibt unter uns. Verstanden?«

»Jawohl, Boss! Wie immer.«

Auf Grays Loyalität und Diskretion konnte ich mich verlassen. Nicht zum ersten Mal beglückwünschte ich mich zu dem Einfall, den sonderlichen Jungen ins Crown zu holen. Obwohl ich so gut wie nichts über ihn und seine Herkunft wusste, war Gray Maggott mir in gewisser Weise ein Vertrauter geworden, jedenfalls in Angelegenheiten, die das Tageslicht scheuten und von denen meine Familie nichts wissen durfte. Der verrückte Simeon gehörte eindeutig zu dieser Art von Angelegenheiten, auch wenn er nicht halb so verrückt war, wie Gray offensichtlich glaubte.

»Und jetzt schleich dich!«

Der Junge verschwand mit einem Bückling in Richtung Dienstbotenzimmer, das sich direkt neben der verwaisten Rezeption befand, und auch ich hatte es eilig, hinauf in meine Mansarde zu gehen, mich frisch zu machen und umzuziehen. Mit Zylinder, Weste und Gehrock konnte ich mich unmöglich in den Kneipen von St. Giles blicken lassen.

Als ich die unbequeme Kleidung abgelegt hatte und in Hemd und Unterhose in meinem Arbeitszimmer stand, das nur unwesentlich geräumiger war als die winzige, spitz zulaufende Schlafkammer nebenan, fiel mein Blick auf das Buchregal neben dem Schreibtisch, und erneut überfiel mich die schlechte Laune, die mich schon auf der Rückfahrt von Dorking gequält hatte. Zwar waren die Fächer im Regal leidlich mit gebundenen Büchern und einigen preiswerten Yellow Backs gefüllt, doch der Gedanke an den Schatz, den ich heute Nachmittag in den Händen gehalten hatte und der nun weiterhin in der Bibliothek von Bury Hill verstaubte, vergällte mir beinahe die Freude an der Literatur. Als ich mit Mr. Barclay rauchend in der Bibliothek gestanden und mich über Bier, Southwark und Mortimers alberne Kaffeehaus-Pläne unterhalten hatte, war mir ein mit goldenem Blütenmuster verziertes Buch im Regal aufgefallen, das sich merklich von den übrigen Groschenromanen und gängigen Klassiker-Nachdrucken unterschied, die sich im Bücherschrank der Barclays sonst so tummelten. Während Mr. Barclay von seinen Geschäftsideen, seiner florierenden Brauerei, seinem noch minderjährigen Sohn und irgendwelchen Umbauten auf dem Werksgelände in Southwark faselte und ich eifrig dazu nickte, obwohl ich gar nicht richtig zuhörte, griff ich wie beiläufig nach dem Buch und starrte es an, als hielte ich den Heiligen Gral in der Hand.

Es handelte sich um eine Originalausgabe von Oscar Wildes Erstlingswerk »Poems«, mit glasiertem und golden emailliertem Pergamenteinband und handgeschöpftem Papier. Nur sehr wenige Exemplare dieser aufwändig und liebevoll gestalteten Gedichtsammlung waren vor etwa sieben Jahren gedruckt und vom Autor höchstpersönlich an ausgewählte Personen übergeben worden. Wie Mr. Barclay in den Besitz dieses Werkes gelangt war, konnte ich mir nicht erklären, aber als ich das Buch aufklappte, sah ich, dass der Schriftsteller es auf der ersten Seite signiert hatte. Wie ich aus einem früheren Gespräch wusste, hielt Merediths Onkel die Literatur und überhaupt jede Art von Kunst für nichtigen Tand, der allenfalls dazu diente, das Einschlafen zu beschleunigen oder, falls es sich um ein Gemälde handelte, etwas Abwechslung ins Tapetenmuster zu bringen.

Perlen vor die Säue!, schoss es mir erneut durch den Kopf. Vielleicht hatte ich auch deshalb so wenig auf den Inhalt des Gesprächs mit Mr. Barclay geachtet, weil ich die ganze Zeit mit dem Gedanken beschäftigt war, ob ich das Buch nicht einfach einstecken und unbemerkt in meinen Besitz bringen sollte. Der Verlust wäre Mr. Barclay vermutlich gar nicht aufgefallen, ja, wahrscheinlich hatte er nicht einmal die leiseste Ahnung, welch ein kostbares Kleinod sich in seiner achtlos zusammengestellten Bibliothek befand. Doch ich hatte mich nicht getraut, das Buch vor seiner Nase zu entwenden, und als ich nun in meiner Mansarde stand und an die vertane Chance dachte, ärgerte ich mich maßlos über meine Feigheit.

Ich schleuderte die Manschettenknöpfe und die Krawatte auf den Schreibtisch, ging nach nebenan, warf mich aufs Bett und starrte missmutig Löcher in die Luft. Wie so oft in den letzten Jahren schalt ich mich für meine eigene Rückgratlosigkeit und meinen fehlenden Mut, Dinge zu tun und Chancen zu ergreifen, die Vergnügen oder Befriedigung versprachen. Stattdessen war ich auf dem besten Weg, ein Mädchen zu heiraten, das mich nicht interessierte, ich führte ein Hotel, das mir herzlich gleichgültig war, und versuchte meinem Vater zu gefallen, obwohl er seit Jahren beharrlich die Tatsache ignorierte, dass ich für ein Leben, wie er es sich vorstellte, einfach nicht geschaffen war.

Doch was genau wollte ich? Was sollte ich mit meinem Leben anfangen? Auch darüber war ich mir nicht im Klaren. Ich wollte etwas anderes, das war das Einzige, was ich wusste. Und wie ein kleines Kind machte ich alberne Pläne für die Zukunft. Mal wollte ich ein Schriftsteller sein und die Welt mit Gedichten und Geschichten in Erstaunen versetzen. Dann wieder glaubte ich, es stecke ein Maler oder Zeichner in mir, dessen Bilder sichtbar machen konnten, was dem Auge sonst verborgen blieb. Oder ich hielt mich für einen potenziell begabten Schauspieler, dessen einziges Manko es war, noch keine Theaterbühne betreten zu haben.

Wie aber sollte ich ein solcher Künstler werden, wenn ich nichts zu erzählen, abzubilden oder darzustellen hatte? Ich hatte in meinen dreiundzwanzig Jahren noch nichts erlebt oder am eigenen Körper erfahren, das sich künstlerisch aufzuarbeiten lohnte. Worüber also sollte ich mich auslassen? Was hatte ich schon mitzuteilen? Nichts! Mal ganz abgesehen davon, dass ich gar nicht wusste, ob ich irgendeine Art von Talent besaß.

Vielleicht war das Grund für meine nächtlichen Fluchten nach Southwark oder ins East End. Um mir ein fremdes Leben anzueignen, das meinem eigenen widersprach und wenigstens den Anschein erweckte, aufregend zu sein. Ich wusste sehr wohl, dass es eine Art Kostümierung war, ein Mummenschanz, der dazu diente, mich mit Menschen und Möglichkeiten in Verbindung zu bringen, die mir im wirklichen Leben verschlossen blieben. Nicht nur die Kleidung wechselte ich, auch meine Sprache konnte ich mittlerweile dem derben Cockney-Slang so anpassen, dass niemand das Schauspiel bemerkte. Niemand außer mir.

Doch wenn ich mich in den Kneipen an der Bankside, den Hurenhäusern von Whitechapel oder den Opiumkellern von Limehouse herumtrieb, dann machte ich mir keine Gedanken über diesen Selbstbetrug, sondern ließ mich wie willenlos treiben und mitreißen. Es war wie ein erregender Schwindel, der mich erfasste und taumeln ließ. Als stünde ich vor einem Abgrund und schaute fasziniert, wenn auch mit zittrigen Knien, in die Tiefe. Ein prickelndes und elektrisierendes Gefühl. Auch wenn das Aufwachen am nächsten Morgen oft mit Ekel oder Schamgefühl verbunden war. Und mit einem bösen Kater obendrein.

Simeon hatte einmal gesagt, ich müsse kein Schauspieler mehr werden, weil ich längst einer sei. Ein ziemlich überzeugender sogar. Und die Huren, der Pöbel und die Gauner in den Slums seien mein unwissendes Publikum. Auch er sei einmal ein solcher Schwindler und eitler Narr gewesen, doch dummerweise gehöre er nun tatsächlich auf die andere Seite und müsse nicht länger nur so tun, als sei er ein Teil des Londoner Abschaums.