Ich zog ein Papier von der Größe eines Viertelbogens aus der Kladde und betrachtete die Kohle-und Bleistiftzeichnung, die ganz in Braun-und Grautönen gehalten war. Für Öl-oder Wasserfarben hatte Simeon kein Geld. Das Bild zeigte einen nackten jungen Mann, der mit gesenktem Haupt auf einem Steinblock hockte und sich mit der rechten Hand an einem Felsen abstützte. Zwei hoch aufragende Flügel wuchsen ihm aus dem Rücken, und eine leuchtende Gloriole umrahmte seinen Kopf, von dem das lange Haar in wirren Strähnen auf die Schultern fiel. Unter dem Herzen hatte der nackte Jüngling eine offene Wunde, aus der das Blut auf den Körper und zu Boden tropfte.
»Nun?«, fragte Simeon und leerte sein Glas.
Ich betrachtete nachdenklich das Gesicht des Mannes, der die verwundete Liebe symbolisieren sollte. Die gebogene Nase, das markante Kinn und die wulstigen Lippen kamen mir sehr bekannt vor. Auf beinahe jedem Bild von Simeon gab es ein solches Männergesicht, das entweder seinem Ideal von Schönheit oder einer bestimmten Erinnerung zu entsprechen schien. Dass ihm ein derart hübscher Knabe im Arbeitshaus Modell gestanden hatte, war kaum anzunehmen.
»Es ist wunderschön«, sagte ich schließlich und schob das Bild rasch wieder in die Kladde. »Aber zugleich sehr gewagt und verwirrend. Es jagt einem einen Schauer über den Rücken.«
Er grinste und nickte zufrieden.
»Warum hast du seine Scham nicht bedeckt?«, wollte ich wissen.
»Die Liebe muss sich nicht schämen!« Er gab sich empört, deutete aber zugleich bittend auf sein Glas.
Ich nickte und fragte: »Was willst du dafür?«
»Fünf Pfund«, antwortete er und winkte dem Wirt.
»Fünf Pfund?« Ich verschluckte mich beinahe an dem Porter und schüttelte den Kopf. »Für ein Bild, das ich nirgendwo aufhängen und niemandem zeigen kann? Vergiss es!« Ich holte meine Brieftasche aus der Jacke, wartete, bis der Wirt eingeschenkt hatte, und legte zwei Pfundnoten auf den Tisch.
»Das ist Halsabschneiderei!«, fluchte Simeon und kippte sich den gesamten Gin mit einem Schwung hinter die Binde. »Du bist ein Banause! Dass du’s nur weißt!«
»Friss oder stirb!«, sagte ich und lächelte, weil ich wusste, dass ihm diese zwei Pfund für einige Zeit über die Runden helfen würden. Und dass niemand sonst so viel Geld für seine Zeichnungen ausgeben würde. Vor allem nicht für diese Art von Bildern.
»Ich hab in der Royal Academy of Arts ausgestellt«, empörte sich Simeon, nippte erneute an dem bereits geleerten Glas und steckte schließlich das Geld ein. Seine Hände zitterten nicht mehr, und seine Nase leuchtete rötlich.
Ich lachte, weil auch der Verweis auf die Königliche Kunstakademie zum festen Bestandteil eines jeden Verkaufsgesprächs im Rookery Inn zählte. Und wie die anfängliche Mahnung an die Verschwiegenheit war der abschließende Vorwurf der Halsabschneiderei nur eine Floskel, die Simeon lediglich verwendete, weil es sich eben so zwischen uns eingebürgert hatte.
»Ich muss los«, sagte er, »sonst lassen sie mich nicht mehr rein.«
»Es wundert mich, dass sie dich überhaupt nach Toresschluss rauslassen.«
»Ich zeichne den Wärtern versaute Bilder«, antwortete er, klopfte sich auf die Brust und rülpste. »Für ein paar nackte Weiber drücken sie gern ein Auge zu. Und der Pförtner steht noch auf ein paar andere Sachen, die lieber geheim bleiben.« Er zwinkerte mir zu, schaute dann sehnsüchtig auf sein leeres Glas und fragte: »Einen für den Weg?«
»Wie immer«, antwortete ich und hob die Hand.
»Kommst du morgen ins Ten Bells?«, wollte Simeon wissen, während wir auf den Wirt warteten. »Könnte spaßig werden.«
»Weiß nicht«, sagte ich und zündete mir eine Zigarette an. »Die armen frommen Seelen tun mir fast ein bisschen leid. Sie wehren sich ja nicht einmal. Kommt mir irgendwie wie ein ungleicher Kampf vor.«
»Warum bist du dann ein Skeleton geworden?«
Eine gute Frage, die ich mir schon oft gestellt und auf die ich keine befriedigende Antwort gefunden hatte. »Aus Langeweile?«, antwortete ich schließlich, ließ es aber wie eine Frage klingen. »Und du?«
»Das weißt du doch«, entgegnete er und deutete auf das Glas, das in diesem Moment vom Wirt gefüllt wurde. »Weil’s sich auszahlt. Es gibt freien Schnaps für alle Skelette. Wie immer. Um sechs geht’s los.«
»Mal sehen«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. »Sechs Uhr passt mir eigentlich nicht, so früh komme ich nicht unbemerkt aus dem Hotel weg.«
»Überleg’s dir«, meinte Simeon und prostete mir zu. »Angeblich hat sich Mr. Waldron diesmal was besonders Lustiges für die Heilsarmisten ausgedacht.«
Die Erwähnung von Mr. Waldron, dem Wirt des Ten Bells Pub, erinnerte mich an meine erste Begegnung mit Simeon Solomon. Es war vor etwa einem Jahr gewesen. Ich hatte den Abend in einem chinesischen Opiumkeller nahe den Docks von Wapping verbracht und wollte, weil mir das Rauchen die Kehle ausgedörrt hatte, ein letztes Bier im Ten Bells trinken, bevor ich mich auf den Heimweg nach Mayfair begab. Der Pub in Spitalfields hatte sich in den letzten Monaten, die ich mich nun schon nächtens im East End herumtrieb, zu einer meiner Lieblingskneipen entwickelt, weil die Kundschaft dort aus einer ebenso illustren wie lustigen Mischung unterschiedlichster Gestalten bestand. Die Prostituierten warben ganz ungeniert vor dem Eingang um Freier, ihre Zuhälter behielten sie aus dem Kneipeninneren im Auge, Dock-und Fabrikarbeiter beiderlei Geschlechts tranken im Ten Bells ihr Feierabendbier, Gauner und Bettler mischten sich unter das bunte, betrunkene Volk, und immer wieder kamen Schausteller, Musiker und Kleinkünstler zur Tür herein, die auf ihre Auftritte hinwiesen oder gleich an Ort und Stelle ihr Können demonstrierten.
In diesem Gewimmel fiel ich nicht weiter auf, niemand erkannte den wohlhabenden Bürgersohn unter dem schwarzen Cord-Anzug. Ich hatte in meiner Verkleidung, die ich inzwischen schon als zweite Haut betrachtete, bereits einige interessante Menschen kennengelernt und höchst unterhaltsame Gespräche geführt. Und nicht selten hatten mich solche Begegnungen anschließend in das ärmliche Bett einer hübschen Arbeiterin oder einer jungen Prostituierten geführt.
Als an jenem Abend vor einem Jahr wieder einmal ein Hausierer zur Tür des Ten Bells hereinwankte und sich dem Tresen zuwandte, rief Mr. Waldron plötzlich hinter dem Schanktisch erfreut: »Simeon, alter Sodomit, was macht die Kunst?«
Seltsamerweise reagierte der Angesprochene auf diese derbe Beleidigung nicht empört, sondern lachte mit dem Wirt und antwortete einsilbig: »Mehr Inhalt, weniger Kunst!«
Mr. Waldron verstand offenkundig nicht so recht, was damit gemeint war, setzte aber sein geschäftsmäßiges Lächeln auf und wandte sich wieder seinem Zapfhahn zu.
Ich betrachtete den sonderbaren Kauz mit dem verfilzten Rauschebart und dem stechenden Blick, der an einer unhandlichen Kladde herumfingerte, und fragte: »Hamlet?«
Der Bärtige schaute überrascht, beäugte mich mit seinen Habichtaugen, grinste dann aber und sagte: »Nein, mein Name ist Solomon.«
»Ich meinte das Hamlet-Zitat«, begann ich und stockte plötzlich. Einen kurzen Moment lang ärgerte ich mich, dass ich mich mit meiner unbedachten Äußerung als Literaturliebhaber oder Theatergänger zu erkennen gegeben hatte. Doch dann fügte ich den Vornamen, den der Wirt benutzt hatte, mit dem Nachnamen, den der Bärtige mir genannt hatte, zusammen und fragte: »Simeon Solomon?«
»Kennen wir uns?«, wunderte er sich.
»Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie. Oder zumindest eines Ihrer Bilder.«
»Ich hab neue dabei«, sagte er bereitwillig und klappte seine Kladde auf. »Jedes Bild für Sixpence. Drei für ’nen Shilling.«
Ich betrachtete die Bilder in Miniaturgröße und schüttelte enttäuscht den Kopf. Es handelte sich um eine Handvoll Postkartenansichten berühmter Londoner Gebäude und Denkmäler sowie biblische Motive in liebloser Bleistiftzeichnung. Läppischer Schund!