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»Nein«, sagte ich, »ich meinte eines Ihrer früheren Bilder. Ein Ölgemälde.«

Simeon runzelte die Stirn und starrte mich finster an, als wäre es ihm unangenehm, auf seine alten Gemälde angesprochen zu werden.

»Ja«, mischte sich der Wirt wieder ein. »Unser Simeon war mal ’n richtiger Maler. Kunstakademie und so, stimmt’s, mein jüdischer Freund?« Er grinste schief, dann beugte er sich zu mir hinüber und setzte augenzwinkernd hinzu: »Bis sie ihn auf einer öffentlichen Toilette mit einem anderen Kerl erwischt haben. Auf frischer Tat.« Er lachte dreckig und klopfte Simeon auf die Schulter. »Da war’s dann Essig mit der Karriere. Heute verhökert er seine Kunst in den Kneipen.« Mr. Waldron deutete auf die Bilder, die immer noch ausgebreitet auf dem Tresen lagen, betrachtete interessiert eine Ansicht des Towers und sagte: »Das hier finde ich allerdings ganz hübsch. Was willst ’n dafür haben?«

»Sixpence«, murmelte Simeon und schaute zu Boden.

»Träum weiter«, lachte der Wirt, nahm das Bild an sich und sagte: »Geb dir ’n halbes Pint dafür.«

»Ein ganzes … bitte?«, bettelte Simeon. »Porter, wenn’s recht ist.«

»Na, will mal nicht so sein«, knurrte Mr. Waldron gönnerhaft. »Soll schließlich keiner sagen, im Ten Bells würden Englands Künstler schlecht behandelt. Selbst wenn sie jüdische Sodomiten sind.«

Ich wusste nicht genau, was ich beschämender fand: die Andeutungen des Wirts wegen des Vorfalls in der öffentlichen Toilette, seine abfälligen Bemerkungen zu Simeons Religion oder das Feilschen des Künstlers um ein paar Schlucke Bier. Mir war es nicht möglich, Simeon Solomon direkt anzuschauen, deshalb war ich erleichtert, als er schließlich sein Glas nahm und sich mit den Bildern unterm Arm den anderen Gästen zuwandte, um seine Miniaturen anzupreisen.

Beim Verlassen des Pubs stieß ich erneut mit Simeon zusammen, der sich mit seinen Bildern unmittelbar vor dem Ausgang positioniert hatte, und ich musste mich regelrecht zwingen, die Frage zu stellen, die mir die ganze Zeit auf den Lippen gelegen hatte. »Ist das alles, wozu Sie noch in der Lage sind, Mr. Solomon?«, sagte ich und wies auf den Umschlag mit den Zeichnungen.

»Es ist das Einzige, was ich noch verkaufen kann«, antwortete er.

»Danach habe ich nicht gefragt.«

»Ich bin ein jüdischer Sodomit, das haben Sie doch gehört.«

»Mag sein. Aber sind Sie immer noch ein Künstler, Mr. Solomon?« Ich schaute ihm in die unangenehm stechenden Augen und setzte hinzu: »Oder haben Sie auch Ihre Kunst auf dieser öffentlichen Toilette verloren?«

Simeon lachte überrascht, tätschelte dann meine Wange und sagte: »Hast du den Mut, es herauszufinden, mein Junge?«

Seit jenem ersten Zusammentreffen im Ten Bells musste ich jedes Mal an diese Frage denken, wenn ich mit Simeon zusammensaß, über die Kunst oder das Leben diskutierte und ihm die Zeichnungen abnahm, die er unter seinem wirklichen Namen keinem ernsthaft Kunstinteressierten zum Kauf anbieten konnte. Inzwischen betrachtete ich Simeon beinahe als meinen Freund, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob das auch andersherum galt oder ob er mich lediglich als seinen Goldesel betrachtete, doch immer noch überkam mich mitunter das Unbehagen, das ich vor einem Jahr am Tresen des Ten Bells empfunden hatte. Dabei ging es nicht darum, dass ich befürchtet hätte, Simeon könnte sich mir auf irgendeine Weise unsittlich nähern, sondern um ein viel vageres Gefühl der Beklemmung. Auch jetzt, im Rookery Inn, während er seinen »Schnaps für den Weg« kippte, fühlte ich die Scham in mir hochsteigen. Ich schämte mich für Simeon, weil er sein Elend und seine Schande in Alkohol zu ertränken versuchte, und ich schämte mich für mich selbst, weil ich diese Schande durch die Pfundnoten, die ich ihm auf den Tisch legte, noch vergrößerte oder zumindest verlängerte. Und sei es unter dem Deckmantel der Freundschaft. Oder der Liebe zur Kunst.

»Bis morgen«, verabschiedete sich Simeon, klopfte auf den Tisch und stand ächzend auf. »Um sechs in der Church Street.«

»Rechne nicht mit mir!«, rief ich ihm hinterher und drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus.

»Würde ich niemals tun«, antwortete er lachend und verschwand.

Ich überlegte kurz, ob ich auch nach Hause gehen sollte. Der Tag war lang und ermüdend gewesen, die Reise nach Dorking hatte mir nicht nur die Laune verdorben, sondern mich auch ausgelaugt. Doch der Gedanke an Bury Hill und die Barclays ließ mich meine Meinung ändern. Ich blieb am Tisch sitzen und machte dem Wirt ein Zeichen. Ein Schnaps für den Weg konnte niemals schaden.

FREITAG, 19. OKTOBER 1888

4

Am nächsten Morgen wurde ich durch ein lautes Klopfen an der Tür geweckt. »Mr. Ingram, Sir, der Boss will Sie sprechen«, hörte ich Grays Stimme aus dem Arbeitszimmer. »Sie haben verschlafen, Sir!«

Schwerfällig schlug ich die Augen auf und wurde durch das grelle Licht geblendet, das durch die Dachluke direkt auf mein Bett fiel. Ich lag in meiner Zimmermannskleidung auf der Bettdecke und hatte es in der vergangenen Nacht offensichtlich nicht mehr geschafft, mich zu entkleiden. Sogar die Schuhe hatte ich noch an den Füßen. Ich hatte keine Ahnung, wie und wann ich nach Hause gekommen war, und erst als ich Simeons »Verwundete Liebe« auf dem Nachttisch liegen sah, kam die Erinnerung an den letzten Abend zurück. Dem letzten Schnaps waren weitere gefolgt, und weil der Gin allein nicht schmeckte, hatte ich ihn mit Bier und Wein hinuntergespült.

»Sag William, dass ich in einer halben Stunde unten bin«, krächzte ich und erschrak über meine eigene Stimme.

»Nicht der Boss«, antwortete Gray, »sondern der Boss vom Boss. Er wartet im Hatchett’s auf Sie.«

»Mein Vater?«, wunderte ich mich und quälte mich aus dem Bett. Ich konnte mich nicht erinnern, dass wir verabredet gewesen wären. »Worum geht’s? Und komm endlich rein, Gray, ich hab keine Lust, durch die Tür zu brüllen!« Da Gray von meinen nächtlichen Ausflügen ins East End wusste, musste ich vor ihm in dieser Hinsicht nichts geheim halten. Ich schaute auf meine Taschenuhr und erschrak. Es war bereits nach Mittag. »Warum hast du mich nicht früher geweckt?«, schnauzte ich den Jungen an, als dieser das Schlafzimmer betrat und verächtlich die Nase rümpfte.

»Das hab ich versucht, Sir«, antwortete Gray und öffnete die Dachluke. »Zweimal sogar, aber Sie sind immer wieder eingeschlafen. War ’ne lange Nacht, was? Kann man sehen. Und riechen. Soll ich Kaffee machen?«

Ich nickte, zog mich aus, warf die nach Rauch und Alkohol stinkenden Sachen in den Weidenkoffer und fragte Gray, bevor er das Zimmer verließ: »Hast du zufällig gehört, was mein Vater mit mir besprechen will?«

»Ihre Brüder sind auch dabei, glaub ich.«

»Familienrat?«, staunte ich und fuhr mir über das stoppelige Kinn. »Wieso?«

»Nicht, dass ich gehorcht hätte«, murmelte er und legte den Kopf schief.

»Nein, natürlich nicht«, sagte ich und machte eine zugleich beschwichtigende und auffordernde Geste mit der Hand. »Also, worum geht’s?«

»Na, um Ihren Umzug nach Southwark.«

»Umzug?« Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Nach Southwark?«

Gray hob die Achseln und sagte: »Ich mach mal Kaffee. Schön stark und mit viel Zucker. Kann, glaub ich, nicht schaden.«

Zwanzig Minuten später stürmte ich wutentbrannt ins Hatchett’s und an Bellamy vorbei die Treppe hinauf. Der alte Portier war so überrascht, dass er sogar vergaß zu grüßen. Ich hastete in den ersten Stock, stieß auf der obersten Stufe beinahe mit einem alten General in Ausgehuniform zusammen und rannte zu den Gemächern meines Vaters. Als ich die Tür zum Salon aufstieß, saßen die drei übrigen Ingrams am Rauchertisch und ließen sich die Zigarren schmecken.