»Ah, da bist du ja, mein Junge«, freute sich mein Vater, doch schon im selben Augenblick nahm sein Gesicht einen verärgerten Ausdruck an. »Du siehst ja fürchterlich aus! Hättest dich wenigstens rasieren können. Mein Gott, wann wirst du endlich vernünftig? Man kann ja Angst vor dir bekommen.«
Mortimer schüttelte lediglich missbilligend den Kopf, während William grinsend fragte: »Feierst du jetzt jeden Abend deinen Junggesellenabschied?«
»Was hat das zu bedeuten?«, wollte ich wissen.
»Was hat was zu bedeuten?«, antwortete mein Vater und rückte sich die Brille zurecht. »Setz dich doch!«
»Das hier!«, fauchte ich, deutete zum Tisch und blieb an der Tür stehen. »Der Familienrat!«
»Ich verstehe nicht«, sagte Mortimer immer noch kopfschüttelnd. »Wir müssen doch das weitere Prozedere besprechen. Es wird sich in Zukunft einiges ändern, das kann man doch nicht so einfach übers Knie brechen.«
»Gar nichts wird sich ändern«, sagte ich und merkte selbst, dass ich mich wie ein bockiges kleines Kind anhörte. »Gar nichts, versteht ihr?«
»Nein, wir verstehen nicht«, sagte mein Vater und schaute mich verwirrt an.
»Was ist los, Rup?«, wunderte sich William. Er stand auf und trat langsam auf mich zu. »Du hast doch alles mit Mr. Barclay besprochen und ihm in allen Punkten zugestimmt. Das hast du selbst gesagt, und auch Mr. Barclay hat heute ein Telegramm geschickt und bestätigt, dass ihr eine Übereinkunft getroffen habt.« Er wollte mir die Hand auf die Schulter legen, doch ich zuckte unwillkürlich zurück, obwohl ich ahnte, dass er recht hatte. Hätte ich gestern doch nur besser auf das ermüdende Gerede von Mr. Barclay geachtet. Aber wie hätte ich auch ahnen sollen, dass es um etwas wirklich Wichtiges ging.
William fuhr besänftigend fort: »Es ist ja auch viel praktischer, in unmittelbarer Nähe der Firma zu wohnen, wenn du in der Brauerei arbeitest. Ich weiß, Southwark ist nicht Mayfair, aber ihr werdet in Anchor Terrace direkt an der Themse wohnen. Mit Blick auf die Kathedrale.«
»Zum Teufel mit der Kathedrale!«, zischte ich und stand weiterhin unentschlossen auf halbem Weg zwischen Tür und Tisch. »Ich ziehe nicht nach Southwark.«
»Aber du kannst nicht in Bury Hill wohnen«, wandte Mortimer ein. »Mr. Barclay braucht dich in Southwark als seine rechte Hand, solange sein ältester Sohn noch ein Kind ist. Das ständige Hin und Her zwischen Surrey und London ist für Mr. Barclay zu umständlich und mühsam. Das ist doch der eigentliche Grund für die Vereinbarung. Bis der kleine Robert erwachsen ist, wirst du dich in die Geschäfte eingearbeitet und unersetzlich gemacht haben. Wer weiß, vielleicht heißt die Firma bald Barclay, Perkins & Ingram.« Mortimer nickte zufrieden und setzte achselzuckend hinzu: »Du siehst, es ist ganz unabdingbar, dass du nach Southwark ziehst.«
»Ich werde nicht nach Southwark und erst recht nicht nach Bury Hill ziehen!«, beharrte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kommt gar nicht in Frage!«
»Willst du mit Meredith in deiner Dachkammer wohnen?«, sagte William, fuhr sich über den Schnauzbart und lachte über seinen Scherz. »Werd erwachsen, Rup! Im Crown ist nicht genug Platz für uns alle, und was ist, wenn ihr erst mal Kinder habt? Du scheinst es immer noch nicht zu begreifen, aber du wirst in Kürze heiraten, Bruderherz. Dinge ändern sich.«
»Dann heirate ich eben nicht!«, entfuhr es mir.
Nun platzte meinem Vater der Kragen. Er sprang auf, schlug mit der Faust auf den Tisch, dass seine Zigarre aus dem Aschenbecher fiel, und schrie: »Schluss mit dem Unsinn! Du hörst auf der Stelle mit diesem Unfug auf! Es ist alles geregelt und besiegelt. Das Faulenzen und Herumtreiben hat ein Ende, hast du mich verstanden, ein für alle Mal! Du heiratest dieses Mädchen, diese …«
»Meredith«, sprang ihm Mortimer bei.
»Weiß ich doch!«, wehrte Vater ab und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf mich. »Du ziehst nach Southwark, du arbeitest bei Barclay, Perkins & Company, und du hörst auf, dich wie ein dummer Schuljunge zu benehmen!«
»Oder?«, fragte ich.
Mein Vater stemmte die Arme in die Seite und sagte mit ruhiger, aber bedrohlich klingender Stimme: »Oder du bist nicht länger mein Sohn! Dann bist du die längste Zeit ein Ingram gewesen. Das schwöre ich beim Grab deiner Mutter.«
Ich schluckte und schwieg.
»Hast du das verstanden?«
Ich verharrte stumm und regungslos.
»Ob du das verstanden hast, verdammt noch mal?«
»Jawohl, Sir.« Und zerknirscht setzte ich hinzu: »Zu Befehl.«
»Na also!« Vater brummte zufrieden, setzte sich wieder und wies auf den freien Stuhl am Tisch. »Und jetzt hock dich hin, damit wir reden können.«
Doch ich tat nichts dergleichen. Ich setzte meinen Hut auf, wandte mich um und verließ kommentarlos den Raum.
»Rupert!«, rief Mortimer mir nach. »Komm sofort zurück!«
»Lass ihn!«, wandte William ein. »Ich glaube, er hat’s begriffen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, brummte mein Vater. »Höchste Zeit, dass der Junge endlich Vernunft annimmt!«
Dann fiel die Tür ins Schloss. Und ich erbrach mich in einen Blumenkübel.
5
Warum war ich nur ein so verdammter Tagträumer? Wieso war es mir nicht möglich, mich auf Dinge zu konzentrieren, die mich nicht interessierten? Weshalb trieben meine Gedanken unweigerlich in alle erdenklichen Richtungen ab, sobald ich mich langweilte? Und warum, zum Teufel, war mein Blick auf das vermaledeite Oscar-Wilde-Buch im Bücherschrank gefallen? Ich verfluchte mich, weil ich gestern nur mit halbem Ohr bei der Sache gewesen war, als Mr. Barclay von den Zukunftsplänen für seine Brauerei gesprochen hatte. Das prahlerische Gerede von den Umbauten auf dem Firmengelände in Southwark, die ermüdenden Ausführungen über den bald anstehenden achten Geburtstag des kleinen Robert junior, die selbstgefälligen Monologe über Bier, Familie und Tradition und darüber, dass ihm das halbwöchige Hin und Her zwischen Southwark und Bury Hill auf Dauer zu anstrengend sei – das alles hatte ich lächelnd über mich ergehen lassen. Ich war mir inzwischen sicher, dass Mr. Barclay auf seine ausschweifende Art auch sehr detailliert dargelegt hatte, was ihm für seine Nichte Meredith vorschwebte und welche Rolle er dabei seinem künftigen »Schwiegerneffen« zudachte. Doch ich Esel hatte nicht hingehört, sondern mich stattdessen in den Anblick eines reich verzierten Buches verliebt. Statt über meine Zukunft als stellvertretender Brauer nachzudenken, hatte ich mir lieber ausgemalt, wie ich Mr. Barclay einen wertvollen Gedichtband stehlen könnte.
Doch andererseits: Was hätte meine Aufmerksamkeit an den Plänen geändert? Hätte ich etwas dagegen einwenden können? Wäre ich Manns genug gewesen, mich zu weigern und Mr. Barclay die Stirn zu bieten? Was hätte ich als Alternative für mich und Meredith anführen können? Ein nichtsnutziges Leben in einer Dachkammer? Mit nächtlichen Fluchten in die Gesellschaft von Huren, Gaunern, Trunkenbolden und gerichtlich verurteilten Sodomiten? Offensichtlich war die gesamte Angelegenheit seit Langem zwischen Harvey Ingram und Robert Barclay senior abgemacht. »Geregelt und besiegelt«, wie mein Vater gesagt hatte. Mit der Einwilligung in die Ehe hatte ich mich auch in alles andere gefügt, das aus dieser Hochzeit folgte. Inklusive Umzug nach Southwark und Arbeit in einer Brauerei. Es war naiv oder fahrlässig gewesen, mir das nicht von vornherein klarzumachen.
Während ich auf dem Victoria Embankment an der Themse entlangschlenderte und den mächtigen ägyptischen Obelisken passierte, der im Herzen Londons so seltsam deplatziert wirkte, wanderte mein Blick auf die andere Seite des Flusses, wo die qualmenden Fabrikschornsteine in den Himmel ragten und das südliche Themseufer mit seinen Dockanlagen, Lagerhäusern und Anlegetreppen wie zerklüftet wirkte. Welch ein Unterschied zu dem breiten und gepflasterten Boulevard auf der Nordseite mit seinen uralten Gärten und herrschaftlichen Stadtvillen. Ich hatte mich schon oft in Southwark und an der Bankside herumgetrieben und kannte viele Kneipen und Gasthäuser in dieser Gegend, darunter befand sich auch der Anchor Pub der Familie Barclay. Doch dort zu wohnen, eingezwängt zwischen Fabriken und Lagerhallen, inmitten des Gestanks nach Brausud, Bleichmitteln und Essigessenz, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich war im vornehmen Mayfair aufgewachsen, und auch wenn ich zögerte, das West End mein Zuhause zu nennen, so wusste ich doch sehr genau, wohin ich nicht gehörte. Meine nächtlichen Ausflüge in die Arbeiter-und Elendsviertel waren eben Ausflüge und nur deshalb so spannend, weil ich anschließend nach Westminster zurückkehren und bei Tageslicht ein sorgenfreies Leben unter meinesgleichen führen konnte.