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Ich hatte inzwischen die Blackfriars Bridge erreicht, blieb plötzlich stehen und schaute zurück nach Westen, wo der Uhrturm von Big Ben majestätisch über dem Parlamentsgebäude thronte. Mit einem Mal durchfuhr mich ein Gedanke, der mir noch vor wenigen Stunden undenkbar und absurd vorgekommen wäre: Lag womöglich genau darin mein Problem? Dass ich mir immer eine Hintertür offengehalten und nie etwas riskiert hatte? Dass ich das Abenteuer gesucht, aber die Gefahr gescheut hatte? Der Alkohol und das Opium ließen mich die Leere und Nichtigkeit meines Lebens vergessen, aber sie füllten es nicht mit etwas Sinn-oder Gehaltvollem aus. Das Gleiche galt für die Frauen und die Liebe. In den letzten Monaten hatte ich mit vielen Frauen geschlafen, gegen Bezahlung oder aus oberflächlicher Sympathie, doch außer der körperlichen hatte ich noch keine Liebe kennengelernt. Nichts Echtes, Ernstes oder Dauerhaftes. Und das Einzige, was mitunter von diesen flüchtigen Liebschaften übrig geblieben war, war ein leichtes Brennen beim Wasserlassen.

»Tragödie oder Scherz?«, rief ein Zeitungsjunge auf der Brücke und hielt eine Ausgabe des Star in die Luft. »Jack the Ripper schickt Niere des Opfers!«

Während ich auf den Jungen starrte, kehrte ich wie aus einem Traum in die Realität zurück.

»Den London Star, Sir?«, fragte er hoffnungsvoll und hielt mir die Zeitung direkt vor die Nase. »Makaberer Brief vom Ripper, Sir!«

Ich winkte ab und fragte wie im Selbstgespräch: »Tragödie oder Scherz?«

»Ganz recht, Sir!«, sagte der Junge. »Kostet ’nen Halfpenny.«

Plötzlich stieg eine seltsam unbändige Wut in mir auf. Warum glaubten eigentlich alle, nach Gutdünken mit mir umspringen zu können? Warum konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Besonders auf William, dem ich mich von allen Familienangehörigen am nächsten fühlte, war ich wütend. Vermutlich hatte er seit Wochen gewusst, was der Vater und Mr. Barclay ausgeheckt hatten, doch kein warnendes Wort war über seine Lippen gekommen. Er hatte mich einfach in mein Unglück rennen lassen!

Ich tat mir selbst leid und verachtete mich zugleich dafür. Doch andererseits: Warum sollte ich kein Selbstmitleid empfinden? Sonst hatte ja niemand Mitgefühl mit mir! Alle verlangten von mir, ein Leben zu führen wie sie, selbst wenn ich es gar nicht wollte. Zum Teufel mit ihnen allen!

»Zum Teufel, Sir?«, maulte der Zeitungsjunge. »Ich verkauf bloß Zeitungen. Kein Grund, gleich zu fluchen.«

Ich schaute den Jungen verwirrt an, drückte ihm eine Münze in die Hand und nahm eine Zeitung. Und aus einer plötzlichen Laune heraus und mit finsterer Miene winkte ich ein Hansom Cab heran, sprang hinein und rief dem Kutscher zu: »Dover Street. Zum Crown Hotel!« Dort würde ich mich schnell umziehen und anschließend ins East End fahren.

»Könnte spaßig werden«, hatte Simeon gestern gesagt. Und genau diesen Spaß hatte ich nun bitter nötig. Auch wenn es ein Vergnügen auf Kosten anderer war. Irgendjemand musste dafür büßen, dass ich mich so elend und ungerecht behandelt fühlte. Dieser Gedanke verschaffte mir zumindest eine kurzzeitige Erleichterung.

Eine halbe Stunde später hatte ich mich in der Mansarde umgezogen, in aller Eile rasiert und die Brieftasche mit Pfundnoten und Münzen gefüllt. Anschließend entfernte ich mich unbemerkt über den separaten Ausgang und ging auf Schleichpfaden zur Piccadilly und von dort durch den St. James Park bis zur U-Bahn-Station. Ich kaufte ein Ticket, bestieg die Bahn und fuhr in östlicher Richtung bis zur Station Aldgate.

Als ich um kurz nach fünf das Bahnhofsgebäude verließ, schlug mir der penetrante Gestank von Blut und Kadavern entgegen. Rund um das Aldgate wimmelte es von offenen Schlachthäusern und Abdeckern, die ihre Abfälle oft tagelang im Freien verrotten ließen und das Blut und die Innereien der Tiere nicht selten einfach in die Gosse kippten. Am Bretterzaun eines Schlachthofs standen einige Jungen und beobachteten, wie eine Kuh mit einem Bolzenschlag zwischen die Augen niedergestreckt und wie ihr anschließend die Kehle durchgeschnitten wurde. Die Burschen begleiteten die Schlachtung mit lautem Beifall und Grölen.

Ich hielt mir den Schal vor die Nase, wich einer bimmelnden Straßenbahn aus und betrat die Aldgate High Street. Von hier war es nur noch ein Katzensprung bis zum Ten Bells Pub.

6

Als ich Simeon gesagt hatte, ich sei der Skeleton Army lediglich aus Langeweile beigetreten, war das bestenfalls die halbe Wahrheit gewesen. Und auch die Aussicht auf ein paar kostenlose Drinks im Ten Bells hätten mich wohl kaum dazu bewogen, mich den Krawallmachern und Randalierern der »Skelettarmee« anzuschließen. Als Mr. Waldron mich vor einigen Monaten gefragt hatte, ob ich nicht Lust hätte, bei den Skeletons mitzumachen und die Versammlungen der Heilsarmee aufzumischen, da wusste ich sehr wohl, dass allein der schiere Eigennutz den Besitzer des Ten Bells antrieb. Die Heilsarmee war den Wirten, Schnapshändlern und Bordellbetreibern im East End nicht länger nur ein lästiger Dorn im Auge, vielmehr hatte sie sich zu einer regelrechten Gefahr für den Umsatz gemausert. Der erstaunlich große Erfolg der gottesfürchtigen Abstinenzler war es, der die Gegenseite dazu veranlasst hatte, eine eigene Armee aufzustellen, um verloren gegangenes Territorium zurückzuerobern. Es ging ihnen nicht, wie sie behaupteten, um die Verteidigung des allgemeinen Rechts auf Alkohol oder Vergnügungen, sondern um den finanziellen Gewinn, der daraus zu erzielen war, die Leute betrunken und lüstern zu halten. Ich war gewiss nicht dumm genug, die fadenscheinige Argumentation der Wirte für voll zu nehmen, und dennoch hatte ich mich nach kurzem Zögern entschlossen, mich in die Rekrutierungslisten der Skeleton Army einzutragen.

Wenn ich ehrlich war, lag es vor allem daran, dass mir die Heilsarmisten unheimlich und fremd waren. Nicht nur, weil sie an einen gütigen und nachsichtigen Gott glaubten, den ich für ein Hirngespinst hielt, und weil sie allem abgeschworen hatten, was mir Freude oder zumindest Ablenkung verschaffte, sondern vor allem, weil sie dabei so selbstgefällig und zufrieden wirkten. Obwohl ich die Ansichten und Lebensweisen der Heilsarmisten nicht im Geringsten teilen konnte und für abstrus hielt, beneidete ich sie in gewisser Weise um die Wirkung, die diese Lebens-und Denkweisen auf ihren Gemütszustand hatten. Sie schienen regelrecht in sich zu ruhen, mit sich selbst im Reinen und über jeden Zweifel erhaben zu sein. Nicht nur ihre simple Botschaft, sondern auch die im wahrsten Sinne soldatische Vehemenz und bedingungslose Überzeugung, mit der sie diese Botschaft nach außen vertraten, machten sie so erfolgreich und für die Gegenseite gefährlich.

Ich war mir durchaus bewusst, dass meine Abneigung im Grunde genommen widersinnig war, denn um nichts in der Welt hätte ich mit den Heilsarmisten tauschen wollen, doch dass sie stets mit einem wie eingemeißelten Lächeln durch die Welt wandelten und mit Inbrunst ihren frömmlerischen Unfug verbreiteten, nahm ich ihnen beinahe persönlich übel. Das Dumme war nur, dass die Aktionen der Skeletons mir ebenso wenig Befriedigung verschafften. Das »Soldatenspielen« erschien mir kindisch und albern und diente mir lediglich dazu, Dampf abzulassen. Was mir allerdings an diesem Freitagabend als Vorwand vollends genügte.