Mr. Waldron hatte sich für diesen Tag tatsächlich etwas Besonderes einfallen lassen. Als ich in meinem Cord-Anzug das Hinterzimmer des Ten Bells betrat, empfing mich neben einer ganzen Hundertschaft von Skeletten auch ein seltsames Fiepen und Kratzen, das von einem guten Dutzend Körben herrührte, in denen sich zahlreiche Ratten befanden, die in den letzten Tagen in den Gossen, Kellern und Kanälen der Gegend gefangen und seitdem nicht gefüttert worden waren.
Die Anführer der Skeleton Army hatten sich etwas wirklich Perfides ausgedacht. Da die Heilsarmee ihre Kundgebung direkt vor dem Ten Bells abhalten wollte, dem »Zentrum des teuflischen Lasters«, wie sie es nannten, beabsichtigte die Gegenseite, die Church Street zu einer Sackgasse und Falle zu machen. Ein Trupp sollte am Kopfende den Zugang zur Commercial Street versperren, ein zweiter am hinteren Ende des Umzugs die Rückzugsmöglichkeit zur Brick Lane unterbinden, eine dritte Gruppe sollte auf dem Dach des Ten Bells verharren und im gegebenen Moment die Versammlung mit Teer-und Kalklappen sowie faustgroßen Steinen bewerfen, und eine vierte Abteilung war dazu auserkoren, mit dem Zug zu marschieren, sich so dicht wie möglich an das Rednerpodest heranzuarbeiten und dort die ausgehungerten und bisswütigen Nager freizulassen. Eine beinahe generalstabsmäßig organisierte Aktion, die mir zumindest originell erschien. Und weil es mich in meiner streitsüchtigen und destruktiven Laune nach der Unmittelbarkeit der Konfrontation dürstete, meldete ich mich als Freiwilliger für die Ratten-Truppe. Auch auf die Gefahr hin, vom Dach aus von den eigenen Leuten beworfen und von den widerlichen Viechern in ihren verhängten Käfigen gebissen zu werden.
Gemeinsam mit Simeon, der sich ebenfalls – allerdings ohne Rattenkiste – für den zentralen Störtrupp gemeldet hatte, begab ich mich zum südlichen Ende der Brick Lane und wartete in der Dunkelheit auf das Eintreffen des Fackelzugs. Als die Heilsarmisten schließlich mit scheppernder Blasmusik und feierlichem Gesang die Whitechapel Road überquerten, reihten wir uns in den Zug ein und stellten schadenfroh fest, dass die Frömmler auch von anderen, nicht-organisierten Anwohnern und Gaffern mit faulem Gemüse und beißenden Spottgesängen bedacht wurden. Ein Wettstreit der Stimmen und Chöre begann, aus dem sich die Skeletons jedoch wohlweislich heraushielten. Mr. Waldron hatte der Rattenfraktion dringend aufgetragen, sich unter keinen Umständen zu erkennen zu geben und im wörtlichen Sinne bedeckt zu halten, bis der Zug das Ten Bells erreicht hatte und das Signal zum Angriff gegeben worden war. So zogen wir in geschlossenen Reihen inmitten der Heilsarmisten und ihrer Anhänger in Richtung Church Street und achteten lediglich darauf, den Kopf des Zuges nicht aus den Augen zu verlieren.
Als der Fackelzug die Stelle erreicht hatte, an der die Church Street linker Hand von der Brick Lane abbog, gab es ein fürchterliches Gedränge und Geschiebe, auch weil die Skeletons niemanden durch ihre Reihen lassen wollten und es daraufhin zu plötzlichen Engpässen und Stockungen kam. Ich achtete so sehr darauf, mich direkt neben Simeon zu halten, ohne mich an dessen Petroleumlampe zu versengen, dass ich gar nicht bemerkte, wie sich plötzlich ein junges Mädchen panisch an mir vorbeidrängte. Mit einem Mal schrie das Mädchen auf und sprang erschrocken zur Seite, wobei es mich beinahe zu Boden stieß. Im letzten Moment konnte ich ausweichen, doch der Schal, den ich mir um das Gesicht gewickelt hatte, rutschte herunter, wodurch ich für einen kurzen Moment dem Mädchen Auge in Auge gegenüberstand. Es schaute mich verwundert an und sagte etwas, das ich wegen des Lärms nicht verstand.
»Was gibt’s da zu starren?«, fauchte ich verärgert, bevor ich mit einem Mal erkannte, wer da vor mir stand. Es war dasselbe Mädchen, das ich gestern am Bahnhof Waterloo angerempelt und das sich beim Kutscher nach dem Weg ins East End erkundigt hatte.
»Soll ich mich wieder schleichen, Sir?«, fragte es, war aber im nächsten Augenblick verschwunden. Als ich es im Gedränge endlich wieder erblickte, stand das Mädchen am Rand des Zuges und redete eindringlich auf einen jungen Heilsarmisten ein, der mit abwehrender Hand und in geduckter Haltung vor ihr stand.
»Wer war das?«, wollte Simeon wissen, der sich ebenfalls umschaute, während wir gleichzeitig vom Strom mitgerissen wurden.
»Keine Ahnung«, antwortete ich und zog mir den Schal vors Gesicht.
»Irgendwo hab ich das Gesicht schon mal gesehen«, sagte Simeon, der weder Schal noch Tuch trug, weil sein dichter Rauschebart und der in die Stirn gezogene Hut Vermummung genug boten. »Bist du sicher, dass du sie nicht kennst?«
»Es ist niemand«, brummte ich und wunderte mich erst jetzt über seine Bemerkung. »Wo hast du das Gesicht schon mal gesehen?«
Er zuckte mit den Schultern und deutete mit der Lampe nach vorne, wo der Kopf des Zuges vor dem Ten Bells Pub angekommen war. »Es geht los«, sagte er. »Bist du bereit?«
»Bereit zu sterben«, zitierte ich ein Motto der Heilsarmisten und lachte.
Nach und nach versammelte sich der Fackelzug vor dem Ten Bells, und da von hinten immer mehr Menschen nachdrängten, entstand ein dichtes Gewühl, das auch dadurch verstärkt wurde, dass die Skeletons den Zugang zur Commercial Street wie geplant mit einem Kordon blockierten. Mit einem kurzen Blick nach oben vergewisserte ich mich, dass auch die Dreck-und Steinewerfer auf dem Dach der Schänke in Position waren. Alles wartete nur noch auf das Signal zum Angriff.
Im selben Augenblick kam es mir vor, als wachte ich aus einem absurden Traum oder benebelnden Rausch auf. Und wie bei einem solchen Erwachen wusste ich nicht, was Trugbild oder Realität war. Was, um alles in der Welt, machte ich hier? Was sollte dieser Unsinn? Und plötzlich hörte ich meinen Bruder William wieder sagen: »Werd erwachsen, Rup!« Das alles war so dumm und unnütz, so unausgegoren und abstrus! Die beschämende und ernüchternde Erkenntnis durchfuhr mich wie ein Blitzschlag.
»Ich muss hier raus!«, rief ich Simeon gegen den Lärm zu. »Sofort!«
»Vergiss es!«, war alles, was er darauf antwortete.
Simeon hatte recht. An ein Fortkommen war gar nicht zu denken, denn ich war umringt von mehreren hundert Menschen. Zudem befand sich auf der einen Seite der Straße das Ten Bells und auf der anderen die Kirche von Christ Church, und die Church Street war in beiden Richtungen abgeriegelt. Ich saß mit in der Falle, die eigentlich für die Heilsarmisten gedacht war. Direkt vor mir befand sich das hölzerne Podest, auf dem sich nun eine uniformierte Rednerin für ihren Auftritt wappnete. Die klägliche Blasmusik verstummte, die Chöre ebbten ab, sogar die Spottgesänge legten eine Pause ein.
Ich schaute zur Bühne und war plötzlich wie gebannt. Der Anblick der jungen Frau, die auf dem Podest die Arme zum Himmel streckte und mit glühendem Eifer von Gottes Liebe zu den Armen und Ausgestoßenen predigte, ließ mich erstarren. Ich wusste selbst nicht genau, warum ich mich plötzlich wie verhext fühlte. Gewiss, die Frau war ausgesprochen hübsch, und ihre roten Locken leuchteten im Fackelschein wie Feuer, doch in der plumpen Uniform der Heilsarmee kamen ihre weiblichen Reize kaum zur Geltung. Dennoch hatte diese Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, eine enorme und kaum zu erklärende Wirkung auf mich. Es war nicht allein ihr Aussehen und erst recht nicht das selbstgerechte Gerede von Rettung und Erlösung, das mich so faszinierte, es war etwas in ihrem Blick und ihrer Haltung, das mir Respekt einflößte. Einerseits erkannte ich das übliche selige Narrenlächeln in ihrem Gesicht, aber zugleich fand ich darin eine Entschlossenheit, die selbst für Heilsarmisten erstaunlich war und ansteckend wirkte. Und es kam mir so vor, als verstärkte dieses wilde Temperament noch ihre naturgegebene Schönheit.
»Wer ist diese Frau?«, wandte ich mich an Simeon.
»Du kennst sie nicht?«, wunderte er sich und ging in Deckung, weil von irgendwo ein Ei geflogen kam. »Das ist Eva Booth. Die Tochter des Generals.«