Wieder schaute ich zum Podest und verfolgte die Predigt mit zunehmend ernster Miene. Ich hatte schon viel über Eva Booth gehört und so manches gelesen, auch Mr. Waldron hatte die Generalstochter oft erwähnt und schien sie für eine Inkarnation seines ärgsten Feindes zu halten. Als ich sie nun auf der Bühne erlebte, begriff ich, warum der Wirt sie derart verfluchte. Eva Booth war schlichtweg bezaubernd, und sie schien sich ihrer Wirkung – als Predigerin wie als Frau – durchaus bewusst zu sein.
»Ihr müsst den Glauben zur Tat werden lassen«, rief sie freudig und drehte sich wie ein Kreisel um die eigene Achse. »Wenn ihr an den Erlöser glaubt, werdet ihr nicht länger den Götzen dienen können. Nicht dem Alkohol und nicht der Hurerei. Nicht der Unzucht und nicht dem Verbrechen. Wenn ihr an Jesus glaubt, werdet ihr bessere Menschen sein, und das Himmelreich wird euch ohne Wenn und Aber offenstehen. Allein durch euren Glauben.«
»Das begreife ich nicht!«, entfuhr es mir wider Willen. Ich hatte aufmerksam und wie paralysiert zugehört und mich dabei der schmalen Stiege genähert, die zum Podest hinaufführte. »Wie kann der bloße Glaube irgendetwas verändern? Wenn ich glaube, dass es morgen regnet, bedeutet das noch lange nicht, dass es tatsächlich regnet. Wie kann der Glaube Berge versetzen? Das klingt zwar tröstlich, aber es will mir nicht in den Kopf.«
»Dann benutze dein Herz!«, erwiderte Eva Booth, kam mir ganz nahe und legte ihre Hand auf meine Schulter. »Der Glaube ist keine Sache des Kopfes, sondern des Herzens. Du musst ihn fühlen, mein Bruder!«
Bei der Berührung durchzuckte es mich, und für einen kurzen Moment hatte ich das Bedürfnis, ihre Hand zu ergreifen, doch dann wich ich unsicher zurück, nahm den Schlapphut vom Kopf und zog mir den Schal aus dem Gesicht.
Eva Booth strahlte, hielt mir ihre Fackel vors Gesicht und erstarrte im nächsten Augenblick. »Satan!«, zischte sie leise und schnellte in die Höhe.
Ich verstand nicht, was oder wen sie damit gemeint hatte, und schaute mich um, doch direkt hinter mir standen nur die vermummten Skeletons, die auf den Befehl des Losschlagens warteten.
Eva Booth fuhr scheinbar unbeirrt in ihrer Predigt fort, doch sie mied meinen Blick und richtete ihre Augen zum Himmel, als wüsste sie, dass in Kürze der Sturm losbrechen würde.
»Zur Tat, Männer!«, erklang nun eine laute Stimme vom Dach des Ten Bells. Und im selben Moment brachen alle Dämme. Steine flogen, Farbbeutel und Kalklappen landeten klatschend auf den Leuten, Banner und Totenkopf-Fahnen wurden entrollt, und die Ratten sprangen fiepend und wild um sich beißend aus ihren geöffneten Käfigen. Die Menschen schrien vor Schmerz oder Wut und versuchten, dem Tumult zu entkommen, doch es gab kein Entrinnen. Binnen weniger Sekunden verwandelte sich die Versammlung in ein wüstes Chaos, in dem sich die eine Seite von vornherein auf verlorenem Posten befand.
Nur ich stand wie angewurzelt da und bewegte mich nicht. Die Ratten in meinem Käfig hatte ich nicht freigelassen, und als mich die kalkgetränkten Lumpen an der Schulter trafen, spürte ich es kaum. Ich blickte hinauf zum Podest, wo Eva Booth ebenso regungslos auf das Tohuwabohu schaute. Steine und Farbbeutel flogen, doch sie duckte sich nicht und machte keine Anstalten, sich von ihrem gefährlichen Podestplatz fortzubewegen. Es hatte beinahe den Anschein, als wollte sie sich und den Umstehenden etwas beweisen.
Doch dann traf sie ein Stein an der Stirn. Sie schwankte hin und her, ging einen Schritt auf die Leiter zu und ließ die Fackel fallen. Ich sprang aufs Podest, um ihren Sturz abzufangen, doch im nächsten Augenblick hatte sie das Gleichgewicht wiedergefunden und fuhr sich verwirrt mit der Hand über das blutverschmierte Gesicht.
»Kommen Sie!«, rief ich und reichte ihr die Hand.
Doch statt meine Hand zu ergreifen, starrte sie mich – wie vorhin schon einmal – wutentbrannt und beinahe angewidert an und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht, sodass ich nach hinten fiel und rücklings vom Rand des Podests aufs Pflaster stürzte. Dummerweise hatte ich den Rattenkäfig direkt vor der Stiege auf der Straße stehen lassen, und als ich nun auf dem Weidenkorb landete, brach der Käfig, und die bissigen Ratten stürzten sich auf mich. Sie bissen mir ins Gesicht und in die Hände, ein besonders aggressives Biest kroch mir in das linke Hosenbein und verbiss sich in meiner Wade. Doch der Schmerz, den ich deswegen verspürte, war gering im Vergleich zu dem Schmerz, der mir bei der Ohrfeige durch die Glieder geschossen war. Während ich mich der Ratten zu entledigen versuchte, wobei Simeon mir nach Leibeskräften half, schaute ich zum Podest hinauf. Doch die Bühne war verwaist, die Heilsarmisten hatten ihre verwundete Predigerin in Sicherheit gebracht.
»Hast heute kein Glück bei den Frauen, mein Junge«, lachte Simeon und trat mit dem Fuß nach einer Ratte, die über meinen Bauch huschte.
»Nein, heute ist nicht mein Glückstag«, knurrte ich und rappelte mich schwerfällig auf, während um mich herum das Hauen und Treten und Beißen weiterging. Mein Gesicht und meine Hände waren zerkratzt und von blutigen Striemen übersät. Vor allem mein Muttermal auf der rechten Wange brannte fürchterlich, eine der Ratten hatte offenbar genüsslich hineingebissen.
»Lass uns verschwinden, bis sich die Lage beruhigt hat«, sagte ich und zog Simeon mit mir fort. »Und bevor die Polizei kommt.«
»Und der Schnaps?«, empörte er sich. »Bin ja schließlich nicht zu meinem Vergnügen hier.«
»Sei mein Gast«, antwortete ich lachend und deutete auf den Britannia Pub auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Von dort kamen weitere Männer angerannt, die ihren Beitrag zu den gewalttätigen Vergnügungen leisten wollten. Irgendwo in der Ferne war das klägliche Pfeifen eines Polizisten zu hören.
7
»Was ist ’n da los?«, wurden wir vor dem Britannia von einer betrunkenen Frau mit rotblonden Locken begrüßt. Lallend und mit starkem irischen Akzent setzte sie hinzu: »Ist die Revolution ausgebrochen?«
»Nee«, antwortete Simeon kichernd, »nur ein paar bissige Ratten.«
Die Rothaarige, vermutlich eine Prostituierte, starrte in mein verkratztes und blutendes Gesicht und zog die Augenbrauen zusammen. »Dachte schon, sie hätten endlich den verdammten Ripper gefangen. Wird Zeit, dass das Monstrum geschnappt wird. Wenn schon die Polizei nichts macht, sollte wenigstens die Bürgerwehr handeln. Man ist ja als Frau seines Lebens nicht mehr sicher. Jetzt verschickt der Irre schon Leichenteile mit der Post.«
»Wer sagt, dass die Polizei nichts unternimmt?«, fragte ich achselzuckend. »Angeblich sollen sogar Spürhunde eingesetzt werden.«
»Und was sollen die, verdammt noch mal, aufspüren?«, höhnte die Frau, die noch nicht sehr alt sein konnte, früher womöglich sogar hübsch gewesen war, inzwischen aber heruntergekommen und verlebt aussah. »Wie riecht denn der Ripper, hä?«, rief sie und schleuderte mir dabei die Spucke ihrer feuchten Aussprache ins Gesicht. »Woher sollen die Scheißköter das wissen?«
»Auch wieder wahr«, gab ich zu, wischte mir mit dem Ärmel über die Wange und öffnete die Kneipentür. »Darf ich dich einladen? Ich geb einen aus.«
»Geburtstag?«
»So was Ähnliches.«
»Geht leider nicht«, antwortete sie und schüttelte den Kopf, dass die roten Locken flogen. »Sonst wird Joseph sauer. Er hat grad erst wieder getönt, ich sollte langsam mal was ranschaffen, anstatt ihm immer nur auf der Tasche zu liegen.« Sie deutete durch die Tür zu einem Tisch, an dem zwei Männer saßen. Der jüngere der beiden trug einen Schnauzbart, der ältere einen Vollbart, und beiden gemein war die mürrische Miene. »Also wie sieht’s aus, Jungs?«, wandte sich die Frau an uns. »Habt ihr Interesse? Von mir aus auch zu dritt. Kostet aber extra.«
»Andermal«, sagte Simeon und zuckte mit den Schultern.