»Andermal«, wiederholte die Prostituierte und streckte dem Schnauzbart, der drohend den Finger hob, die Zunge heraus.
»Scher dich raus, Ginger!«, rief der Mann mit dem Schnauzer.
»Kannst mich mal«, knurrte die Frau, ging aber wie befohlen hinaus.
Simeon und ich betraten das Britannia, setzten uns an den Ecktisch gleich neben dem Eingang und bestellten eine Karaffe Bier und eine Flasche Gin. Und dann fragte Simeon: »Warum hat sie dich geschlagen?«
Genau diese Frage hatte ich mir in den letzten Minuten auch unentwegt gestellt und keine Antwort darauf gefunden. Daher sagte ich: »Ich weiß es nicht.«
»Aber es muss doch einen Grund geben, warum Eva Booth dir eine Ohrfeige gegeben hat!«, erwiderte Simeon und stopfte seine Pfeife. »Immerhin ist sie sonst eine von der Beide-Wangen-hinhalten-Fraktion!«
»Welcher Fraktion?«
»Wie in der Bergpredigt«, erklärte er, zündete die Pfeife an und setzte paffend hinzu: »Wer dir auf die eine Wange schlägt, dem halte auch die andere hin. Evangelium nach Matthäus. Die Heilsarmisten sind nicht gerade bekannt dafür, gewalttätig zu werden.«
Ich nickte und konnte dennoch nur meine Antwort wiederholen: »Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht hat sie mich mit jemandem verwechselt?«
»Das sah aber nicht so aus«, meinte er, griff nach dem Gin, den der Wirt auf den Tisch gestellt hatte, und goss sich ein. »Sie hat dich wie einen Geist angestarrt. Als hätte sie eine Erscheinung gehabt.«
»Sie hat mich einen Satan genannt«, sagte ich und zündete mir eine Zigarette an der Kerze an. »Dabei bin ich ihr noch nie begegnet. Wirklich nicht! Daran könnte ich mich bestimmt erinnern.«
»Du meinst, weil sie so schön ist?«, lachte Simeon und tätschelte meinen Unterarm. »Oder weil sie dich mit ihren tröstenden Worten bekehrt hat? Sei vorsichtig, mein Freund, der Glaube kann wie eine ansteckende Krankheit sein.«
Ich schnaufte abfällig und schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen! Ich passe schon auf meine geistige Gesundheit auf.« Ich spülte den Gedanken mit einem Schluck Bier hinunter und fügte nachdenklich hinzu: »Aber bezaubernd ist sie, nicht wahr?«
»Eine Heilige und eine Hexe«, sagte er und stieß eine Rauchwolke aus. »Wenn ich die heilige Johanna malen wollte, könnte ich mir Eva Booth als Modell vorstellen. In silberner Rüstung und mit Flammenschwert. Sie ist eine wahre Kriegerin für ihre seltsame Sache.«
Wieder nickte ich und schaute wie gebannt auf die Tischplatte.
Irgendetwas in meinem Blick schien Simeon zu erheitern, denn plötzlich lachte er laut und rief: »So schlimm, Rupert?! Dich hat’s ja mächtig erwischt.«
»Unsinn!«, antwortete ich, doch es klang vermutlich etwas halbherzig.
»Schlag’s dir lieber gleich aus dem Kopf! Nicht nur wegen der Ohrfeige.« Simeon lächelte verschmitzt, hob die Augenbrauen und setzte flüsternd hinzu: »Hab gehört, dass sie ihrem Vater versprochen hat, niemals zu heiraten.«
Wieder rief ich: »Unsinn!«
»Ich sag nur, was ich gehört habe«, antwortete er und hob entschuldigend die Schultern. »Der General hat seiner Tochter angeblich aufgetragen, ihr Leben lang eine Jungfer zu bleiben. Und wie man hört, hat sie’s ihm hoch und heilig geschworen. Das hat mir ein abtrünniger Offizier der Heilsarmee erzählt. Der General und seine schöne Tochter scheinen sich sehr zugetan zu sein. Pech und Schwefel sind ein Dreck dagegen.«
»Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter«, empörte ich mich, goss mir einen Schnaps ein und kippte ihn hinunter, ohne mit der Wimper zu zucken. »Die Zeiten, in denen die Eltern darüber bestimmen konnten, wen die Kinder heiraten oder nicht, sind vorbei!«
»Ach ja?«, lachte Simeon und schüttelte ungläubig den Kopf. »Das sagt ja genau der Richtige.« Grinsend setzte er hinzu: »Wie geht’s eigentlich Meredith Wie-war-doch-gleich-ihr-Name? Heldin deiner Träume. Liebe deines Lebens!«
»Damit hat’s jetzt ein Ende!«, entfuhr es mir. »Ein für alle Mal!«
Er schaute mich überrascht an und verschluckte sich an seinem Pfeifenrauch.
»Ich hab mich entschieden, Simeon«, sagte ich und zog so heftig an meiner Zigarette, dass ich mir beinahe die Finger versengte. »Ab sofort ist Schluss mit der Heuchelei und dem scheinheiligen Getue. Ich mach nicht mehr mit.«
»Aha?«, wunderte er sich und kippte den nächsten Gin. »Und was sagt dein Vater dazu? Hast du seinen Segen?«
»Er hat gedroht, mich zu enterben.«
Simeon nickte, als hätte er dafür allergrößtes Verständnis, und fragte: »Was hast du vor?«
»So genau weiß ich das noch nicht«, musste ich zugeben und tunkte mein Taschentuch in den Gin, um damit meine Kratzer und Wunden zu betupfen. »Ich such mir eine billige Wohnung. Vielleicht hier irgendwo in der Nähe. Und dann werde ich arbeiten und eigenes Geld verdienen. Keine Almosen von William oder meinem Vater, kein Gnadenbrot von Mr. Barclay, ich will selbst und ehrlich schuften.«
»Entschuldige, dass ich lache«, antwortete Simeon, ohne auch nur ansatzweise amüsiert zu wirken. »Aber welche Arbeit schwebt dir vor? Kohlenschleppen im Hafen? Oder Wergzupfen und Steineklopfen wie im Arbeitshaus?«
Die beiden Bärtigen am Nachbartisch horchten auf und schauten neugierig zu uns herüber. Der Schnauzbart namens Joseph lachte leise vor sich hin.
»Ich werde schreiben«, sprach ich aus, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging. »Das kann ich. Oder ich werde es lernen.«
»Willst Dichter werden, he?«, mokierte sich Simeon.
»Warum nicht?«
»Dann mach dich auf ein Leben in Armut gefasst«, erwiderte er kopfschüttelnd und wandte sich im nächsten Moment an die Lauscher am Nebentisch: »Was gibt’s da zu glotzen?«
Die beiden hoben abwehrend die Hände und starrten auf ihre leeren Bierkrüge.
»Und wenn schon!«, beharrte ich und betupfte mein Muttermal auf der Wange. Es brannte fürchterlich, doch irgendwie fühlte es sich gut an. Wie eine verdiente Strafe.
»Und wenn schon?«, echote Simeon und griff eisern nach meiner Hand, dass mir der Schmerz bis in die Schulter fuhr. »Glaubst du, das ist ein Spiel? So eine Art Zeitvertreib für gelangweilte Bengel? Du bist hier nicht in deinem Gentlemen’s Club, wo sich jeder Lackaffe für einen Dichterfürsten hält! Denkst du wirklich, es macht Spaß, Hunger zu haben und nicht zu wissen, wie man den nächsten Tag überstehen soll? Glaub mir, Armut ist zum Kotzen!« Er klopfte seine Pfeife aus und verstaute sie in der Jackentasche. »Kunst muss man sich leisten können, mein Lieber. Oder man muss sie erleiden können. Dazwischen gibt es nichts.«
»Wer redet von Kunst?«, erwiderte ich, obwohl ich mir insgeheim eingestehen musste, dass ich genau davon geredet hatte. »Dann schreib ich eben für eine Zeitung. Gibt ja mehr als genug davon. Was die Stümper da jeden Tag zusammenkritzeln, krieg ich allemal aufs Papier.«
Simeon lehnte sich wieder zurück und presste missbilligend die Lippen aufeinander. Es hatte beinahe den Anschein, als hätte ich ihn mit meinen unausgegorenen Plänen zutiefst beleidigt. Oder hatte er womöglich bloß Angst, einen potenten Geldgeber zu verlieren?
»Ich muss gehen«, sagte er, setzte sich zum Abschied die Flasche Gin an den Mund und nahm einen großen Schluck. »Melde dich, wenn du wieder zur Vernunft gekommen bist.«
»Jetzt sei nicht eingeschnappt!«
»Das bin ich nicht«, antwortete er und stand auf. »Aber erwarte bitte nicht, dass ich dir auch noch auf die Schulter klopfe, wenn du gerade dabei bist, dein Leben zu ruinieren.«
»Da gibt es nichts mehr zu ruinieren.«
»Hast du eine Ahnung, Rupert! Du weißt ja gar nicht, wovon du sprichst.« Er fuhr sich über den verfilzten Vollbart, hob die Hand zum Gruß und wandte sich zur Tür. »Mach’s gut, mein Freund!«
»Eine Frage noch«, hielt ich ihn zurück.
»Ja?«
»Woher kanntest du es?«
»Woher kannte ich was?«