»Das Mädchen«, antwortete ich und drückte meine Zigarette aus. »Vorhin beim Fackelzug. Das Mädchen, das mich in der Brick Lane umgestoßen hat. Du hast gesagt, du hättest das Gesicht schon mal gesehen.«
Simeon nickte nachdenklich.
»Also?«, fragte ich. »Woher?«
»Ich habe es gemalt.«
»Das Mädchen?«
Er schüttelte den Kopf. »Das Gesicht.«
»Wann?«
»Vor acht Jahren vielleicht.«
»Aber da war das Mädchen ja noch ein kleines Kind.«
»Eben«, antwortete er und hob erneut die Hand zum Gruß. »Bis bald, Rupert! Und danke für den Gin.« Mit diesen Worten verließ er das Britannia.
Unschlüssig und verwirrt blieb ich am Tisch sitzen. Ich schaute aus dem Fenster und sah Simeon die Straße überqueren, in Richtung Ten Bells, wo sich die Lage sichtlich entspannt hatte. Vermutlich spekulierte er auf einen weiteren Gratis-Schnaps. Einen, der ihm nicht die Laune verdarb.
Ich leerte meinen Bierkrug und dachte über das nach, was Simeon gesagt hatte. Über Eva Booth und das unbekannte Mädchen. Vor allem die Tochter des Generals wollte mir nicht aus dem Kopf, immer wieder sah ich ihren beinahe angewiderten Blick, spürte die Ohrfeige auf meiner Wange und hörte sie sagen: »Satan!« Doch sosehr ich auch grübelte und mir das Hirn zermarterte, mir wollte einfach nicht einfallen, wo ich ihr schon einmal begegnet sein könnte. Womöglich hatte sie mich irgendwo gesehen oder erlebt, ohne dass ich sie wahrgenommen hatte. Doch was hatte ich angestellt, das ihr seltsames Verhalten rechtfertigte? Was glaubte sie über mich zu wissen, das mir selbst unbekannt war?
Dass sie mich in betrunkenem oder berauschtem Zustand in irgendeiner Kneipe oder Opiumhöhle gesehen hatte, war durchaus denkbar. Schließlich predigten die Heilsarmisten gern in zwielichtigen Kaschemmen, um die verlorenen Seelen auf den Pfad der Tugend zurückzubringen. Aber konnte das allein ein Grund sein, mich einen Satan zu nennen? Wäre es nicht viel eher ein Anlass gewesen, mich bekehren und zu einem besseren Menschen machen zu wollen, wie sie es in ihrer Rede behauptet hatte?
Es war zum Verrücktwerden, und je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass mir ihre heftige Abneigung einen Stich ins Herz versetzte und dass ich den eigentlich belanglosen Vorfall vor dem Ten Bells nicht als lustige oder nichtige Episode abtun konnte. So fremd und unbekannt mir Eva Booth auch war, so albern und selbstgerecht ich ihre Botschaft und ihr Auftreten fand, es war mir dennoch aus unerfindlichen Gründen wichtig, dass sie keine schlechte Meinung von mir hatte. Und ich musste an Simeons scherzhafte Worte denken: »Dich hat’s ja mächtig erwischt.«
Gleichzeitig jedoch stieg Wut in mir hoch. Wie am Nachmittag auf der Blackfriars Bridge fühlte ich mich mit einem Mal wieder ungerecht behandelt. Was bildete diese Frau sich ein, mich ohne Grund zu beschimpfen und zu ohrfeigen? Wie kam sie dazu, mich einen Satan zu nennen? Das war nicht akzeptabel, und es entbehrte jeder Grundlage! Auch gegen Simeon spürte ich einen plötzlichen Groll. Wieso sprach er mir die Fähigkeit ab, für mich selbst zu sorgen, ohne mir wenigstens die Gelegenheit zu geben, das Gegenteil zu beweisen? Wie gering schätzte er mich, dass er mich einen gelangweilten Bengel nannte? Wie kam er – ausgerechnet er! – dazu, mich von oben herab zu behandeln und wie einen dummen Schuljungen zu belehren? Ich würde ihnen schon noch beweisen, dass sie sich in mir täuschten. Ihm und ihr. Allen! Sie würden sich noch wundern.
»Entschuldigung?«, hörte ich eine tiefe Männerstimme neben mir.
Ich fuhr aus meinen Gedanken auf, wandte mich zur Seite und schaute in ein bärtiges Gesicht.
»Ja?«, fragte ich.
»Ich hab vorhin zufällig dein Gespräch mit deinem Kumpel mit angehört«, sagte der Mann. Es war der vollbärtige Kerl vom Nachbartisch. Sein Freund Joseph, der Zuhälter der Hure Ginger, schien den Pub inzwischen verlassen zu haben. Und auch der Vollbart hatte seine Seemannsjacke angezogen und die Schiebermütze auf dem Kopf.
Wieder sagte ich: »Ja?«
»Du suchst ’ne Bleibe?«
»Kann sein.«
»Nur für die Nacht oder länger?«
»Kommt drauf an.«
»Hab vielleicht was für dich. Gleich um die Ecke, in der Dorset Street.« Er räusperte sich, wartete auf eine Antwort, die ich ihm aber nicht gab, und setzte dann hinzu: »Ich hab ’n freies Zimmer. Nach hinten raus.«
»Zur Untermiete?«, fragte ich und schüttelte bedauernd den Kopf. »Danke, aber ich such eigentlich was Eigenes.«
»Das Zimmer hat ’nen eigenen Eingang, hinten raus zum Hof«, sagte er und trat unruhig auf der Stelle, als müsste er dringend aufs Klo. »Und es kostet dich fast nichts. Vier Shilling die Woche.«
»Gleich um die Ecke?«, fragte ich. Eigentlich hatte ich mir überlegt, in einem der vielen Logishäuser im East End oder in einer billigen Pension zu übernachten, denn in meine Mansarde in Mayfair zurückzukehren, kam für mich nicht in Frage. Aber ein Zimmer in unmittelbarer Nähe war auch nicht zu verachten.
»Kannst es dir ja mal anschauen«, sagte er und wich meinem Blick aus, während er mir gleichzeitig seine Hand entgegenstreckte. »Mein Name ist Edmund.«
Statt seine Hand zu nehmen, stand ich auf, steckte die beinahe leere Ginflasche in die Jackentasche und sagte: »Anschauen kostet ja nichts.«
»Genau«, meinte er und räusperte sich. »Wie bei den Huren.«
»Was?«
»Anschauen«, sagte er und hielt mir die Tür auf. »Kostet nichts.«
8
Vermutlich wäre ich niemals auf die Idee gekommen, dem Kerl zu folgen, wenn ich nicht so aufgebracht und zugleich verwirrt gewesen wäre. Doch der Gedanke an Simeons abfällige Worte und Eva Booths unerklärliche Ohrfeige ließen mich dem Mann namens Edmund unbedacht hinterhertapsen wie ein trotziges Kind auf der Suche nach Abenteuern. Dass er mich ausrauben wollte, schien mir nicht sehr wahrscheinlich, denn selbst wenn er mir einen falschen Namen genannt hatte, kannte ich die Namen seines Freundes Joseph und der Hure Ginger. Wenn er also an mein Geld wollte, musste er mich schon umbringen, um nicht anschließend überführt zu werden. Was allerdings auch nicht gerade ein beruhigender Gedanke war.
Die Dorset Street, die direkt neben dem Britannia Pub von der Commercial Street weg in westliche Richtung führte, war eine ebenso schmale wie düstere Gasse. Links und rechts wurde sie von dreistöckigen, meist reichlich verwahrlosten Backsteinhäusern gesäumt, in denen sich verschiedene Armenunterkünfte und billige Absteigen befanden. Die Straße war kaum beleuchtet und so eng bebaut, dass das Licht des Vollmonds nur die oberen Stockwerke streifte, dennoch erkannte ich, dass eine Großzahl der Fenster im Erdgeschoss mit Brettern verbarrikadiert oder mit Tuch verhangen war. Bereits nach wenigen Schritten blieb mein seltsamer Begleiter stehen und deutete auf einen winzigen Torbogen auf der rechten Seite. Der Name des dahinterliegenden Yards war über dem Durchgang in die Mauer eingelassen, doch es war so dunkel, dass ich ihn nicht lesen konnte.
»Hier ist Miller’s Court«, sagte Edmund und räusperte sich mehrmals. Dieses Räuspern schien eine Marotte von ihm zu sein. »Bitte einzutreten.«
Der schmale und niedrige Torbogen führte durch das Backsteingebäude an der Dorset Street zu einem rechtwinkligen Hof, der von einer flackernden Gaslaterne auf der linken Seite beschienen wurde. Ich ließ Edmund vorangehen und folgte ihm in gehörigem Abstand, wobei ich immer wieder nach hinten schaute, in ständiger Erwartung eines Angriffs. Wenn sie mich überfallen wollten, bot der rabenschwarze Durchgang die beste Gelegenheit dazu.
»Keine Bange«, sagte Edmund, als er unter der Gaslaterne stand und mit einer Kopfbewegung auf den verwinkelten Yard deutete, »ich bin nicht der Ripper.«
»Und ich bin keine Frau«, sagte ich und zwang mich zu einem Lachen.
»Stimmt genau!« Er räusperte sich und starrte zu Boden, als wäre ihm mein Anblick unangenehm. Wie ein Hund vermied er den direkten Augenkontakt und schien sich wie ertappt zu fühlen, wenn sich unsere Blicke dennoch kreuzten. Ich schätzte ihn auf mindestens vierzig Jahre, doch in seinem unsicheren und fahrigen Verhalten erinnerte er mich an ein Kind.