»Keine Frau«, wiederholte er und wies nach links auf ein zweistöckiges Gebäude, von dem mehrere Türen zum Hof gingen. »Dahinten wohn ich. Letzte Tür. Nummer fünf im Erdgeschoss. Gleich dahinter ist der Abtritt. Die Pumpe ist hier vorne. Wasser gibt’s morgens und abends.« Er deutete nach rechts, wo der Hof wie bei einem Wurmfortsatz eine Sackgasse bildete und an der Wand des Nachbarhauses endete. »Und dort wohnen Joseph und Mary Jane«, setzte er hinzu und schaute zu einer Wohnung gleich neben der Pumpe.
»Mary Jane?«, wunderte ich mich.
»Die Leute nennen sie Ginger, wegen ihrer rotblonden Haare.« Wieder räusperte er sich, dann ging er geradeaus zur Nummer fünf, schloss die Tür auf und verschwand. Nur wenig später kam er mit einer brennenden Kerze wieder heraus und deutete zum Ende des Yards, wo sich der Abort befand. »Der Eingang ist um die Ecke«, sagte er und ging voraus.
Wieder schaute ich zurück und wartete auf einen Hinterhalt, doch nichts geschah, kein Ton war zu hören, niemand erschien. Edmund hatte inzwischen eine kleine Tür auf der rückwärtigen Seite des Gebäudes geöffnet, die vom Hof aus gar nicht zu sehen war. Mit der Kerze leuchtete er hinein, und als ich ihm über die Schulter schaute, erkannte ich, dass es sich um eine Art Verschlag oder Lagerraum handelte.
»Das Zimmer hat kein Fenster«, sagte ich verwundert.
»Wozu auch?«, antwortete Edmund und betrat die Kammer. »Oder brauchst du ’nen Ausblick aufs Scheißhaus?«
»Und keinen Kamin«, fügte ich hinzu und schaute mich ratlos in dem winzigen Kabuff um. Lediglich ein Bett stand an der hinteren Wand und ein kleiner Tisch neben der Tür. Ein Hocker diente gleichzeitig als Stuhl und Nachttisch. Mehr Möbel hätten auch gar nicht hineingepasst.
»Der Kamin ist auf meiner Seite«, sagte er, stellte die Kerze auf dem Tisch ab und befühlte die hintere Backsteinmauer, an der das Bett stand. Es war die einzige Steinwand in diesem Anbau, die restlichen Wände waren aus Holz gezimmert, und der Boden bestand aus gestampfter Erde. »Die Wand ist so warm, dass du gar nicht heizen musst«, fügte Edmund hinzu und klopfte auf die Backsteine. »Spart Geld.«
»Das ist kein Zimmer, sondern ein Bretterverschlag«, meinte ich und schüttelte den Kopf. »Was war das früher? Der Brennholzschuppen?«
»Meinetwegen«, sagte Edmund und verdrehte die Augen. »Sagen wir drei Shilling Sixpence.«
Ich verharrte stumm und regungslos.
»Na gut! Drei Shilling. Und du kriegst noch ’ne Waschschüssel und eine Decke fürs Bett«, setzte er hinzu und kam einen Schritt näher. »Die Matratze ist wie neu.«
»Wer hat hier vorher gewohnt?«, wollte ich wissen.
»Long Liz ist hier oft untergekommen, wenn sie betrunken war oder wenn Michael sie mal wieder verdroschen hat«, sagte Edmund und schaute zu Boden. »Oder wenn sie ’nen Freier hatte, der’s nicht im Freien mit ihr treiben wollte.«
»Long Liz ist eine Hure?«, fragte ich.
»Sie war eine«, knurrte Edmund und schüttelte den Kopf, als hätte ich etwas Dummes gesagt. »Sie ist nämlich tot. Liest du keine Zeitung?«
»Du meinst …?«, setzte ich an, brachte die Frage aber nicht über die Lippen.
»Keine Bange«, sagte er und hielt mir den Schlüssel hin. »Das war unten in der Berner Street in Whitechapel. Vor drei Wochen. Und verstümmelt wurde sie auch nicht.« Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Hals. »Nur die Gurgel durchgeschnitten. Aber nichts mitgenommen. Ich meine, nichts von der Leiche. Trotzdem sagen alle, es war der Ripper. Was wissen die schon! Also, was sagst du?«
Ich stand wie gelähmt da und starrte ihn an. Das Zimmer war eine Zumutung, und die Tatsache, dass eines der Mordopfer hier geschlafen hatte, machte es nicht verlockender. Dennoch war ich nicht in der Lage, den Kopf zu schütteln oder einfach hinauszugehen.
»Na dann«, sagte Edmund, der mein Schweigen und meine Starre als Einverständnis zu verstehen schien. Er nickte, legte den Schlüssel auf den Tisch und ging zur Tür. »Ich bring dir die Decke und die Schüssel. Aber die Miete bräuchte ich für einen Monat im Voraus.« Er räusperte sich ein letztes Mal und setzte, mit Blick auf den Boden, hinzu: »Willkommen im Miller’s Court!«
Vermutlich war ich der einzige Mensch in London, der sich bislang kaum für den sogenannten Ripper und seine bestialischen Morde interessiert hatte. Und das, obwohl ich mich mit Vorliebe in genau jener Gegend herumtrieb, in der auch der Frauenmörder seine Opfer gesucht und so grausam getötet hatte. Womöglich war ich, ohne es zu wissen, dem Ripper bei meinen nächtlichen Ausflügen nach Whitechapel und Spitalfields sogar schon einmal begegnet. Noch wahrscheinlicher war es, dass ich mit einem seiner Opfer geredet, getrunken oder sogar geschlafen hatte, und dennoch hielt sich mein Interesse für die spektakuläre und ganz London in Atem haltende Mordserie in Grenzen. Zu meiner eigenen Verwunderung, wie ich gestehen musste!
Natürlich war ich vage über die Ereignisse und Spekulationen auf dem Laufenden. Das ließ sich kaum vermeiden, da jedermann, nicht nur im East End, geradezu zwanghaft und mit einer seltsamen Lust am Grauen von den Untaten sprach. Überall hingen die Aufrufe und Flugblätter der Polizei. Aber auch die Zeitungen, nicht nur die billigen Schundblätter, berichteten täglich über das mordende Phantom, obwohl es nur wenig Neues oder gar Stichhaltiges zu vermelden gab. Nicht einmal über die Anzahl der bisherigen Opfer war man sich einig. Viele der unzähligen Journalisten schienen wie die ermittelnden Polizisten orientierungslos im Londoner Nebel zu stochern und sich einfach ihren wüsten Fantasien zu überlassen. Eine Bürgerwehr, das Whitechapel Vigilance Committee, hatte sich gebildet, forderte von der Regierung und der Polizeiführung ein hohes Kopfgeld für die Ergreifung des Rippers und patrouillierte nachts, mit Knüppeln und Messern bewaffnet, durch die Straßen. Wie man munkelte, schlenderten nach Einbruch der Dunkelheit als Frauen verkleidete Polizisten durch Whitechapel, um den Mörder auf sich aufmerksam zu machen und auf frischer Tat zu stellen. Doch weder diese Finten noch die unnützen Bluthunde hatten bislang irgendwelche verwertbaren Hinweise auf den Täter erbracht, sondern allenfalls Hinweise auf die Hilflosigkeit und Unfähigkeit der Polizei. Und das versetzte die Menschen derart in Unruhe, dass sie sich zusammenrotteten und immer wieder Unschuldige auf die Polizeistationen schleppten, nur weil sie als Ausländer oder Juden einer Randgruppe angehörten oder in irgendeiner Weise ungewöhnlich wirkten.
Diese Erregung der Massen stärkte in mir den Unwillen, mich genauer mit der Sache zu befassen. Der marodierende Mob und die brodelnden Gerüchte, die ihn befeuerten und immer wildere Blüten trieben, waren mir zuwider. Ich war entschlossen, mich nicht vom allgemeinen Fieberwahn anstecken zu lassen. Als Mann hatte ich vom Ripper ohnehin nichts zu befürchten, und solange ich mich vom aufgepeitschten Lynchmob fernhielt, konnte mir wenig passieren.
Dachte ich zumindest.
Doch nun war ich ausgerechnet in einem Zimmer gelandet, in dem eines der Mordopfer zeitweilig gewohnt hatte. Ich sollte in einem Bett schlafen, in dem die ermordete Hure ihre Freier empfangen hatte. Und es war nicht ausgeschlossen, dass der Ripper, den sie Jack nannten, sie genau hier aufgestöbert hatte. Das Seltsame war jedoch, dass genau das, was mich hätte abschrecken sollen, meine Neugier kitzelte und in mir ein brennendes Kribbeln erzeugte.
Nachdem Edmund mir die Schüssel und eine muffige Wolldecke gebracht hatte, gab ich ihm die zwölf Shilling für den Monat, verriegelte die Tür hinter ihm, verkantete den Stuhl unter der Klinke und legte mich in Jacke und Hose aufs Bett. Die Kerze stellte ich auf den Boden und ließ sie brennen.