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Ich weiß nicht genau, wie lange ich wach lag, auf die leisesten Geräusche achtete und zur Bohlendecke starrte, die sich im flackernden Kerzenlicht zu bewegen schien. Die Gedanken rasten durch meinen Kopf, die seltsamen Ereignisse des Tages zogen wie in einer Narrenparade an mir vorbei, doch nachdem ich meine Unruhe und Aufregung mit einigen großen Schlucken aus der Ginflasche gedämpft hatte, fielen mir schließlich die Augen zu.

Irgendwann in der Nacht wurde ich durch eine laute Stimme geweckt. Auf der anderen Seite der Steinwand rief Edmund: »Nein, ich bin unschuldig! Ich war’s nicht. Ich war dagegen! Nein!« Auch er schien eine unruhige Nacht zu verbringen.

Dann war alles wieder still.

SAMSTAG, 20. OKTOBER 1888

9

Am nächsten Morgen riss mich ein lautes Lachen aus dem Schlaf. Ich fuhr hoch, doch weil das Zimmer kein Fenster hatte und die Kerze längst niedergebrannt war, war es stockfinster im Raum. Ich brauchte einige Zeit, um zu begreifen, wo ich mich befand und wie ich hergekommen war. Wieder lachte jemand schallend. Es hörte sich beinahe so an, als stünde derjenige direkt neben meinem Bett.

»Hast die Bruchbude also tatsächlich untergebracht?«, rief der Lachende.

»Nicht so laut, Michael«, mahnte eine tiefe Stimme, die ich sofort als die meines bärtigen Vermieters erkannte. »Der Kerl kann uns doch hören. Die Bretterwand ist sehr dünn.«

»Wem sagst du das!«, amüsierte sich der andere. »Der wird sich noch den Arsch abfrieren, wenn’s erst mal richtig kalt wird. Sei froh, dass es heute Nacht nicht geregnet hat, sonst wärst du das feuchte Loch nie losgeworden. Wie heißt ’n der Bursche?«

»Keine Ahnung«, sagte Edmund. »Hat mir seinen Namen nicht gesagt.«

»Komisch, oder?«

»Kann mir egal sein, hat ja für ’nen Monat im Voraus bezahlt.«

»Einen Monat im Voraus?« Das Lachen des anderen Mannes nahm einen hämischen Unterton an. »Was ist denn das für ’n Schwachkopf?«

»Psst«, machte Edmund, konnte sich das Lachen aber ebenfalls nicht verkneifen. Es folgte eine kurze Stille, dann sagte er: »Ah, da ist Joseph.«

»Morgen, du Schlafmütze!«, rief der Mann namens Michael. »Wurde auch Zeit. Du wirst es nicht glauben, aber ihr habt ’nen neuen Nachbar.«

»Macht nicht so ’nen Lärm«, sagte eine krächzende und verkatert klingende Männerstimme. »Ginger schläft noch.«

»Einträgliche Nacht?«, fragte Edmund.

»Will ich hoffen«, antwortete Joseph mürrisch. »Hauptsache, sie hat nicht wieder alles versoffen. Wär nicht das erste Mal.«

Ich hatte mich inzwischen aufgerappelt und zum Eingang vorgetastet. Nachdem ich den Stuhl beiseitegestellt hatte, öffnete ich die Tür und trat hinaus. Der Morgen dämmerte bereits, der Himmel leuchtete gelblich vom Rauch der Schlote, aber in dem engen Hof war es trotzdem noch immer so dunkel, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Als ich um die Ecke schaute, sah ich die drei Männer vor Edmunds Tür stehen. Die Gaslaterne war noch an und warf lange, zitternde Schatten auf die Erde.

»Na, gut geschlafen?«, fragte Edmund und zog sich die Schiebermütze tief in die Stirn, als hätte er Angst, ich könnte ihm ins Gesicht schauen.

»Erstaunlicherweise ja«, antwortete ich und stapfte zur Wasserpumpe.

»Die Matratze ist wie neu«, sagte Edmund stolz. »Hab ich ja gesagt.«

Während ich an den Männern vorbeiging, betrachtete ich flüchtig den einzigen mir unbekannten Mann in der Runde. Er wirkte untersetzt, trug einen schäbigen Bowler, seine Jacke war an den Ellbogen zerschlissen und die Hose an den Knien mit großen Lederflicken besetzt. In seinem aufgedunsenen Gesicht wucherte ein buschiger Schnauzbart unter der Nase, und seine wulstigen Lippen bogen sich zu einem abschätzigen Grinsen. Als sich unsere Blicke kreuzten, verfinsterte sich seine Miene plötzlich und seine hohe Stirn wurde von tiefen Falten zerfurcht. Er sah mich lauernd an, als erwartete er eine Attacke oder als wäre er vor irgendetwas auf der Hut.

»Du bist Michael, nicht wahr?«, fragte ich, während ich ihnen den Rücken zuwandte und den Pumpenschwengel bewegte.

»Kennen wir uns?«, antwortete er, ließ es aber nicht wie eine Frage klingen.

»Nicht dass ich wüsste«, sagte ich, obwohl mir sein Gesicht irgendwie bekannt vorkam, ohne dass ich jedoch eine Ahnung hatte, wo es mir schon einmal begegnet war. Deshalb setzte ich hinzu: »Aber die Bretterwand ist sehr dünn. Und Edmund hat dich gestern erwähnt.«

»Hat er das?«, knurrte Michael. Dennoch klang er beinahe erleichtert.

Edmund starrte auf seine Finger und murmelte: »Wegen Liz.«

»Was ist mit der?«, schnauzte Michael.

»Nichts«, sagte Edmund verängstigt und räusperte sich. »Was soll sein?«

»Was ist mit der Pumpe?«, fragte ich, weil kein Wasser aus dem Rohr kam, und rüttelte an dem Schwengel, der lose in der Halterung saß. »Ist die kaputt?«

»Wasser ist rationiert«, antwortete Edmund. »Halbe Stunde bei Sonnenaufgang, halbe Stunde bei Sonnenuntergang. Weißte das nicht?«

»Doch«, log ich. »Dachte, es wär noch nicht so spät.«

Joseph zog den Rotz hoch und fragte: »Du warst gestern im Britannia, oder? Du und der alte Zottel.«

Die Bezeichnung Zottel gefiel mir, und ich musste lachen. Was jedoch wegen der Wunde an meinem Muttermal sehr schmerzhaft war.

»Schluss mit dem albernen Geplauder!«, rief Michael und deutete mit einer Kopfbewegung zur Straße. »Wir müssen los.«

»Zu den Docks«, erklärte Edmund in meine Richtung, wobei er sich jedoch eher mit meinen Füßen unterhielt, und fuhr sich über den Vollbart. »Unten am Hafen.«

»Arbeitet ihr drei dort?«

»Was denn sonst?«, bellte Michael. »Glaubst du, wir sitzen am Kai, lassen die Beine baumeln und schauen uns die verdammten Dampfer an?« Zischend setzte er hinzu: »Schwachkopf!«

Ich zuckte mit den Schultern, betastete den Blutschorf an meinem Muttermal und schaute ihnen nach. Als die drei den dunklen Durchgang betraten, sah sich Michael ein letztes Mal zu mir um. Sein finsterer Blick versprach nichts Gutes. Er wirkte beinahe wie eine Drohung. Offenbar hatte ich mir einen Feind gemacht, ohne im Mindesten zu wissen, wieso und womit.

»Nimm’s nicht persönlich!«, hörte ich in diesem Augenblick eine irisch klingende Frauenstimme hinter mir. Ginger stand im Eingang ihrer Wohnung, die sich direkt neben der Passage zur Dorset Street befand. »Michael ist immer so«, setzte sie abfällig schnaufend hinzu. »Ein verdammter Wüterich. Geh ihm am besten aus dem Weg!«

»Morgen, Ginger«, sagte ich und wandte den Blick ab, weil sie im weit geöffneten Unterkleid vor mir stand. »Wohnt dieser Michael auch im Hof?«

»Nee«, antwortete sie. »Vorne in der Dorset Street. Nur ein paar Häuser weiter.« Plötzlich lachte sie, schüttelte ihre rote Mähne, knöpfte kokett ihren Ausschnitt zu und rief: »Kannst ruhig hingucken, Süßer. Gucken kostet nichts.«

»Lässt du Edmund auch immer gucken?«, entschlüpfte es mir. »Umsonst?«

»Was meinst ’n damit?«, rief sie mit finsterer Miene. »Hat er das behauptet? Edmund ist ein armer Tropf. Solltest ihm nicht alles glauben!«

Es war offenkundig, dass ich mit meiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. »Ich hab nur laut gedacht«, sagte ich und lachte. »Denken kostet auch nichts.«

»Überlass das Denken den Pferden«, antwortete sie und drohte spielerisch mit dem Zeigefinger. »Die haben ’nen größeren Kopf.«

Ich nickte, ging einen Schritt auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Ich heiße übrigens Rupert. Ich wohne jetzt in der Bretterbude beim Scheißhaus.«

»Rupert?«, wunderte sie sich und schüttelte meine Hand. »Komischer Name.«

»Kommt aus dem Deutschen, glaube ich.«

»Bist du ein Jude?«

»Wär das schlimm?«

Sie hob die Achseln, dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. »Ist mir egal, solange mich keiner bekehren will. Und nackig sehen sie eh alle gleich aus. Obwohl, bei den Juden …« Sie machte eine Scherenbewegung mit Zeige-und Mittelfinger und setzte grinsend hinzu: »Schnipp, schnapp!«