Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was sie damit meinte. Dann nickte ich erneut, räusperte mich und wandte mich ab. »Bis dann«, sagte ich und ging in Richtung meines Verschlags. Das Stichwort »bekehren« hatte mich auf eine Idee gebracht.
10
Die Queen Victoria Street führte vom Mansion House des Lord Bürgermeisters in südwestlicher Richtung zum neu errichteten Bahnhof St. Paul’s, gleich neben der Blackfriars Bridge. Die großzügig und breit angelegte Straße war erst vor wenigen Jahrzehnten gebaut worden, um den Verkehr zum Bankendistrikt in der City zu bündeln und den Straßenlärm von der nahe gelegenen Kathedrale fernzuhalten. Dass das Hauptquartier der Heilsarmee ausgerechnet an dieser prominenten Straße, sozusagen in Reichweite der anglikanischen Kathedrale und unweit des Londoner Finanzzentrums stand, erschien mir einerseits erstaunlich und unpassend, zeugte aber andererseits vom enormen Selbstbewusstsein der einstigen Splittergruppe, die sich inzwischen zu einer weltweit operierenden Organisation gemausert hatte. Dieses stolze Selbstgefühl drückte sich auch in den riesigen gelben Lettern aus, die an der gesamten Fassade der Nummer 101 prangten: THE SALVATION ARMY INTERNATIONAL HEADQUARTERS. Das vierstöckige Gebäude war ein einziges Spruchband und schrie regelrecht hinaus, wer hier das Zepter schwang.
Vor wenigen Jahren noch hatte das unscheinbare Domizil der Heilsarmee an der Whitechapel Road im East End gelegen. Doch inzwischen galten die Tugenden der Bescheidenheit und Mäßigung offenbar nur noch für die Soldaten und Anhänger, nicht aber für die Organisation selbst. In Kriegszeiten, in denen sie sich zu befinden glaubte, war es scheinbar wichtig, mit lauter Stimme zu sprechen und Flagge zu zeigen. Deshalb hieß ihre Zeitung The War Cry, und deshalb unterhielten sie kein Büro, sondern ein Hauptquartier mitten im Reich des Feindes.
Der Eingangsbereich war, gerade im Vergleich mit der schreienden Fassade, auffällig unscheinbar eingerichtet. In gewisser Weise erinnerte er mich an das improvisierte Foyer unseres Hotels in der Dover Street. Auch hier gab es eine winzige Lobby mit wenigen Sitzgelegenheiten und einen brusthohen Empfangstisch, hinter dem ein uniformierter Mitarbeiter saß, der alle Ankommenden mit einem pflichtbewussten Lächeln empfing. Allerdings wäre ich in der derben, mit Kalk und Kot beschmutzten Kleidung, die ich an diesem Morgen trug, im Crown Hotel nicht ganz so zuvorkommend behandelt worden wie bei den Salutisten der Heilsarmee.
»Kann ich helfen, Sir?«, fragte der Mann hinter der Theke und lächelte, als wäre es tatsächlich sein einziger Lebenssinn, anderen Menschen beizustehen.
»Ich möchte zu Captain Eva Booth«, sagte ich und lüpfte den Schlapphut.
»Aha«, sagte er, und sein Lächeln wurde etwas kritischer. »Und in welcher Angelegenheit, wenn ich fragen darf? Oder haben Sie einen Termin?«
Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Es geht um eine Ohrfeige.«
»Ich bitte um Entschuldigung?«, erwiderte der Heilssoldat, neigte den Kopf und schaute mich über den Rand seiner Eisenbrille misstrauisch an.
»Das möchte ich gern unter vier Augen mit dem Captain besprechen.«
»Captain Eva ist sehr beschäftigt. Dafür haben Sie sicherlich Verständnis.«
»Sie ist also im Haus?«, folgerte ich aus seinen Worten.
Er nickte und wiederholte: »Aber sie ist wirklich sehr beschäftigt, Sir. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie könnten mir eine Nachricht für sie hinterlassen«, erwiderte er lächelnd. »Ich würde persönlich dafür Sorge tragen, dass sie dem Captain bei nächster Gelegenheit zugestellt wird.« Er machte eine möglichst verbindliche Miene und schob sich die Brille auf der Nase zurecht, obwohl sie gar nicht verrutscht war.
Für einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob ich einfach am Empfangstisch vorbeigehen und durch den angrenzenden Flur und die Schwingtür das Hauptquartier betreten sollte, doch das Gebäude war riesig, und überdies wimmelte es von uniformierten Menschen. Es war undenkbar, Eva Booth zu finden oder auch nur in ihre Nähe zu gelangen, ohne vorher von Heilssoldaten umstellt und auf die Straße gesetzt zu werden. Daher nickte ich schließlich und bat um ein Blatt Papier und einen Stift.
Ich überlegte kurz und schrieb: »Werter Captain! Wenn Sie mir eine weitere Ohrfeige geben wollen, werde ich gern meine andere Wange hinhalten. Satan.« Das sollte reichen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Anschließend faltete ich das Papier und notierte außen: »Für Captain Eva Booth. Persönlich.«
»Wollen Sie auf eine Antwort warten?«, fragte der Heilsarmist, nahm die Nachricht in Empfang und deutete auf die Stühle, die vor den Fenstern zur Straße standen. »Es kann allerdings eine Weile dauern. Vielleicht notieren Sie besser Ihre Anschrift auf dem Zettel?«
Ich schüttelte erneut den Kopf und sagte: »Ich warte draußen auf der Straße.« Das war zwar nicht so bequem, aber es erschien mir sinnvoll, Eva Booth nicht auf ihrem eigenen Terrain, sondern quasi auf neutralem Boden zu begegnen.
»Es kann allerdings eine Weile dauern«, wiederholte er und hob bedauernd die Achseln. »Captain Eva ist …«
»Sehr beschäftigt, ich weiß.« Ich lächelte ihn aufmunternd an und sagte: »Ich habe Zeit und werde warten. Vielen Dank!« Damit verließ ich das Hauptquartier und trat hinaus auf die Queen Victoria Street, auf der sich die Kutschen, Handkarren und sonstigen Fuhrwerke in mehreren Spuren drängten und den Fußgängern das Überqueren der Straße beinahe unmöglich machten.
Vom Eingang des Hauptquartiers hatte man einen direkten Blick zur mächtigen Kathedrale von St. Paul, deren riesige Kuppel mit dem darunterliegenden Säulengang im Morgenlicht strahlte. Ich setzte mich in unmittelbarer Nähe auf den Gehweg, lehnte mich an eine Gaslaterne und zündete mir eine Zigarette an. Das Rauchen beruhigte mich und meinen knurrenden Magen, der außer einem Schluck Wasser noch nichts beinhaltete. Ich schob mir den Hut in den Nacken und schaute dem Treiben auf der Straße und dem Gewimmel auf dem Gehsteig zu.
Zwischen den ratternden Droschken, mehrspännigen Lastkutschen und überladenen Handkarren der fliegenden Händler sah ich ein einzelnes Hochrad, das auf dem holprigen Pflaster bedrohlich hin und her schwankte. Immer wieder hörte man von Unfällen, bei denen Radfahrer unter die Pferdehufe oder Kutschräder gerieten und dabei schwer verletzt wurden. Es gab nicht wenige Stimmen, die sich dafür aussprachen, die gefährlichen Ungetüme gänzlich aus der Stadt zu verbannen und nur noch bei Wettrennen zuzulassen. Mein Bruder Mortimer war ein passionierter Radfahrer, der schon manches Rennen im Westminster Aquarium bestritten hatte. Für ihn war sein geliebtes Hochrad allerdings ausschließlich ein Sportgerät, und niemals wäre er auf die absurde Idee gekommen, es auf einer befahrenen Straße zu benutzen.
Der Gedanke an Mortimer erinnerte mich schlagartig daran, dass ich sehr bald meiner Familie gegenübertreten und ihr meine Entscheidung mitteilen musste. Denn an dieser folgenschweren Entscheidung hatte sich seit der vergangenen Nacht nichts geändert. Die Tatsache, dass ich inzwischen eine Unterkunft – so ärmlich sie auch sein mochte – in Spitalfields gefunden hatte, beflügelte mich regelrecht und ließ in mir die Überzeugung wachsen, dass ich auch eine mir genehme und zu bewältigende Arbeit finden würde. Ich konnte mir lebhaft ausmalen, wie meine Familie reagieren würde: William würde mir ins Gewissen reden, Mortimer mich für verrückt erklären und Vater einen Tobsuchtsanfall bekommen. Sie würden mir die vermeintlichen Flausen auf ganz unterschiedliche, aber sehr bestimmte Weise auszutreiben versuchen. Doch das konnte mich nicht schrecken. Nicht einmal der Verlust der Erbschaft und meines Namens taugte als Menetekel an der Wand. Das redete ich mir zumindest ein.