Seitdem ich beschlossen hatte, Tabula rasa zu machen und meinen Nächsten reinen Wein einzuschenken, fühlte ich mich erstaunlich beschwingt und voller Tatendrang. Die allgemeine Lustlosigkeit, die ich so lange mit mir herumgeschleppt hatte, war einer Euphorie gewichen, die ich mir selbst nicht erklären konnte. Natürlich sah ich meine Zukunft nicht in einem Elendsviertel im East End. Meine Gegenwart war mehr als ungewiss, aber dass ich mit meiner Vergangenheit als Hotelerbe und angehender Bräutigam abgeschlossen hatte, beglückte mich geradezu. Denn als solche betrachtete ich mein bisheriges Leben: als Vergangenheit!
»He, du da!«, wurde ich durch einen Tritt gegen meinen Unterschenkel aus meinen Gedanken gerissen. »Aufstehen! Aber ein bisschen plötzlich!«
Über mir stand ein Polizist in seiner dunklen Uniform, den schmalen Schlagstock in der Hand und den runden Bobby-Hut tief in die Stirn gezogen. Wieder gab er mir einen Tritt mit dem Stiefel.
»Seit wann ist es verboten, auf dem Bordstein zu sitzen?«
»Seit ich das sage«, antwortete der Police Constable mürrisch und klopfte sich mit dem Schlagstock auf den Oberschenkel. »Scher dich weg! Wir wollen hier kein Gesindel auf der Straße. Geh dahin, wo du hergekommen bist!«
»Vielleicht bin ich ja von hier?«, antwortete ich und rappelte mich auf.
»So siehst du aus, Bursche!«, höhnte der Polizist, der inzwischen von einigen interessierten Passanten umgeben war.
»Ich warte auf jemanden«, antwortete ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Aber nicht hier! Nicht in meiner Straße.«
»Die Queen Victoria Street ist Ihre Straße?«
Er nickte bedeutsam, zupfte sich am Schnurrbart, dessen gedrillte Enden nach oben zeigten, und sagte: »Lumpenpack und Bettler dulde ich hier nicht.«
»Ich bin kein Bettler.«
»Wenn du kein Bettler bist, bin ich kein Polizist«, lachte er und wandte sich Beifall heischend an die Umstehenden, die unser Wortgefecht belustigt verfolgten.
»Wenn Sie das sagen, Sir«, erwiderte ich und warf ihm meine Zigarette vor die Füße. »Dann wird’s wohl stimmen.«
Das selbstgefällige Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, seine Mundwinkel zuckten, der Schlagstock schnellte in die Höhe, doch bevor er auf mich niedersausen konnte, hörte ich eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund: »Das wird nicht nötig sein, Constable!« Captain Booth drängte sich von hinten durch die Menge, legte dem Schutzmann die Hand auf den ausgefahrenen Arm und sagte: »Danke, Officer! Ich kümmere mich um den Mann.«
»Sind Sie sicher, Ma’am?«
»Das bin ich.« Sie nickte dem Constable zu, schenkte ihm ein freundliches und verbindliches Lächeln und wandte sich dann mit abfälliger Miene an mich: »Sie lieben es, Unruhe zu stiften, nicht wahr?« Eva Booth trug die gleiche Uniform wie am Vorabend, doch unter ihrer Haube schaute ein weißer Verband hervor, der die gesamte Stirn bedeckte. Ihr schönes rotbraunes Haar hatte sie unter der unförmigen Haube verborgen, und auch ihr Blick war nicht so gewinnend und bezaubernd wie bei der gestrigen Veranstaltung.
»Kommen Sie!«, rief sie und deutete auf die Nummer 101.
»Nicht im Hauptquartier«, antwortete ich und wies in die entgegengesetzte Richtung. »Begleiten Sie mich zum Fluss?«
»Fürchten Sie sich vor Zeugen?«, fragte sie und hob die Augenbrauen.
»Alles in Ordnung, Ma’am?«, erkundigte sich der Constable misstrauisch.
»Alles in Ordnung, Sir«, sagte ich und hob abwehrend die Hand.
»Ma’am?«, beharrte der Polizist und trat näher an uns heran.
»Alles in Ordnung, Officer«, bestätigte sie und ging voraus in Richtung Blackfriars Bridge. Ungeduldig winkte sie mir zu und befahclass="underline" »Nun machen Sie schon! Ich habe nicht viel Zeit.«
Auf dem kurzen Weg zur Themse hatte ich Mühe, mit ihr Schritt zu halten, und als ich sie schließlich kurz vor dem Bahnhof St. Paul’s eingeholt hatte, fuhr sie plötzlich herum, sah mich mit bohrendem Blick an und rief: »Was wollen Sie von mir?«
»Eine Erklärung«, sagte ich schnaufend, doch meine Worte gingen in dem Lärm einer ratternden Lokomotive unter, die direkt über unseren Köpfen pfeifend in den Bahnhof einfuhr. »Ich möchte mich bei Ihnen für gestern entschuldigen«, sagte ich, als der Krach nachgelassen hat, und setzte hinzu: »Und ich bitte gleichzeitig um eine Erklärung.«
»Eine Erklärung?«, rief sie und starrte mich verwundert an. »Ausgerechnet Sie wünschen eine Erklärung von mir? Die bin ich Ihnen nicht schuldig.«
»Sie haben mich geohrfeigt und einen Satan genannt.«
»Sie nennen sich selbst einen Satan und unterschreiben mit seinem Namen«, erwiderte sie und hielt mir den Zettel mit der Nachricht vor die Nase.
»Mein Name ist Rupert«, sagte ich. »Rupert Ingram.«
»Sie sind ein Soldat der gottlosen Skelettarmee. Ein brutaler Rüpel und Krawallmacher.« Dabei tippte sie sich mit der anderen Hand an die verbundene Stirn. »Es macht Ihnen Spaß, andere zu verletzen.«
»Nicht länger«, sagte ich kopfschüttelnd. »Das ist vorbei!«
»Gut für Sie«, gab sie sich unbeeindruckt, doch für einen kurzen Augenblick wirkte sie überrascht und auch ein wenig erleichtert, gerade so, als hätte sie tatsächlich befürchtet, ich könnte ihr etwas antun. Dann wandte sie sich von mir ab und blickte zum Fluss, auf dem die Segelboote und Dampfer die niedrige Eisenbahnbrücke passierten und wegen der landeinwärts strömenden Flut mit den Schornsteinen und Masten beinahe an die geschwungene Eisenkonstruktion stießen. »Also?«, fragte sie, ohne mich anzuschauen. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Ingram? Was wollen Sie?«
»Woher kennen Sie mich?«, fragte ich und stellte mich neben sie an das eiserne Geländer, das den Gehweg von der Uferböschung trennte. »Was ist es, das Sie mir vorwerfen? Denn als sie mich einen Satan genannt haben, wussten Sie noch nicht, dass ich zu den Skeletons gehörte. Was habe ich Ihnen getan?«
Sie sah mich stirnrunzelnd von der Seite an und fragte: »Ist das Ihr Ernst?«
Ich nickte und blickte ihr direkt ins Gesicht.
Eva Booth war offenkundig verwirrt. Sie schien mir einerseits zu glauben, war aber zugleich noch nicht bereit, ihr Misstrauen abzulegen. Es hatte fast den Anschein, als suchte sie in meinem Gesicht nach einer Antwort. Dann deutete sie plötzlich auf das Muttermal auf meiner rechten Wange und sagte: »Sie sollten damit zu einem Arzt gehen. Die Wunde eitert und hat sich entzündet.«
»Es ist nichts«, wiegelte ich ab. »Nur ein Rattenbiss.«
»Daran habe ich Sie erkannt.«
»Woran?«
»An Ihrem Kainsmal.«
»Kainsmal?«, entfuhr es mir, und wider Willen musste ich lachen. »Aber ich habe niemanden ermordet! Schon gar nicht meinen Bruder.«
»Doch, das haben Sie!«, erwiderte sie, und ihr Blick verhärtete sich. »Wir sind alle Brüder und Schwestern, denn Gott ist unser gemeinsamer Vater. Und Sie haben eine unserer Schwestern auf dem Gewissen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
»Ich rede von Elizabeth Gustafsdotter«, erwiderte sie und deutete mit dem behandschuhten Finger auf meine Nase. »Ohne Sie und Ihren brutalen Freund wäre sie womöglich noch am Leben. Ganz bestimmt wäre sie das sogar.«
»Elizabeth wer?«
»Gustafsdotter. Sie stammte aus Schweden.« Sie wandte sich erneut ab, seufzte tief und schaute auf die andere Seite des Flusses, zur Bankside, wo der Anchor Pub der Familie Barclay verschlafen in der Morgensonne döste. »In den Zeitungen nannte man sie später Elizabeth Stride. Sie war seit Jahren Witwe, und vermutlich war Stride der Name ihres verstorbenen Mannes. Uns hat sie sich mit ihrem Mädchennamen vorgestellt. Deshalb haben wir auch lange nicht begriffen, dass es sich um ein und dieselbe Frau handelte.«
»Ich höre zum ersten Mal von dieser Frau«, beteuerte ich und legte meine Hand auf ihren Unterarm. »Das müssen Sie mir glauben, Eva!«