»So, muss ich das?«, sagte sie und zog ihren Arm weg. »Und nennen Sie mich gefälligst nicht beim Vornamen! Das steht Ihnen nicht zu, Sir!«
»Was ist denn überhaupt passiert? Ich begreife das alles nicht.« Die Situation erschien mir so unwirklich und absurd. Offensichtlich wurde mir ein Fehlverhalten vorgeworfen, das einer Frau das Leben gekostet hatte, doch mir waren weder die Frau noch mein Vergehen bekannt. Trotzdem schien Eva Booth nun von mir zu erwarten, dass ich irgendeine Schuld eingestand oder Reue für meine Verfehlung zeigte. Ich flehte sie regelrecht an: »Beschimpfen Sie mich, ohrfeigen Sie mich, das soll mir alles recht sein, aber bitte verraten Sie mir, was ich getan haben soll!«
»Elizabeth war eine gefallene Frau«, sagte sie und hob abwehrend die Hand, als ich nachhaken wollte. »Und sie war eine bemitleidenswerte Trinkerin. Beides hängt natürlich zusammen, denn der Satan kennt viele Wege, die Menschen ins Verderben zu führen. Doch die Unglückliche wollte auf den Pfad der Tugend zurückkehren, dem Alkohol abschwören und sich nicht länger an die Männer verkaufen. Vor allem aber wollte sie sich von ihrem Freund trennen, der ein Trunkenbold und übler Schläger war und sie ein ums andere Mal wie einen Köter verdroschen hat. Deshalb hat sie sich an die Heilsarmee gewandt. Sie hat uns um Hilfe gebeten, und natürlich haben wir alles in unserer Macht Stehende getan, um sie in ihrem Entschluss zu bestärken.«
»Dieser Freund, von dem Sie sprechen, kennen Sie seinen Namen?«, unterbrach ich sie und kramte hektisch nach meinen Zigaretten. Ein seltsamer und unbehaglicher Verdacht stieg in mir auf, und ich brauchte etwas, um meine Nerven zu beruhigen.
»Sie nannte ihn Mika, aber ich glaube nicht, dass er ebenfalls Schwede war«, antwortete Eva Booth und machte plötzlich eine angewiderte Miene. »Würden Sie bitte in meiner Gegenwart das Rauchen unterlassen, Mr. Ingram? Das ist ein gottloses Laster, das ich in meinem Beisein nicht dulden kann. Andernfalls müsste ich unser Gespräch auf der Stelle beenden.«
»Entschuldigung«, murmelte ich und warf die Zigarette, die ich gerade angezündet hatte, in die Themse. Der schroffe und kühle Tonfall, in dem Eva Booth mit mir redete, und der eisige Blick, mit dem sie mich bedachte, taten mir im Innersten weh. Zugleich aber hatte ich inzwischen eine Ahnung, in welche Richtung dieses Gespräch führte, und bei dem Gedanken daran wurde mir ganz schlecht. Dennoch sagte ich: »Bitte erzählen Sie weiter!«
»Nachdem dieser Mika sie wieder einmal geschlagen hatte, kam Elizabeth zu uns ins Frauenasyl und bat die Schwestern um Schutz.«
»Das Asyl in der Hanbury Street?«, fragte ich und schluckte. Ein verschwommenes Bild des Hauses tauchte vor meinem inneren Auge auf, und irgendetwas tief in mir beschwor mich dringend, auf der Stelle das Weite zu suchen. Ich schaute über meine Schulter in Richtung Queen Victoria Street, dort standen zwei Uniformierte dicht beieinander und blickten zum Fluss. Der eine trug einen Polizeihelm und einen Schlagstock, der andere ein Käppi der Heilsarmee.
Eva Booth nickte und fuhr fort: »Sie hatte Striemen am ganzen Körper und hat kein vernünftiges Wort herausgebracht, weil sie zunächst versucht hatte, ihren Schmerz mit Alkohol zu betäuben. Schwester Florence, meine Schwägerin, hat sich gemeinsam mit den anderen Schwestern um sie gekümmert. Ich habe Elizabeth einige Male in der Hanbury Street gesehen und konnte feststellen, dass es ihr nach wenigen Tagen bereits besser ging. Sie war wieder frohen Mutes und fest entschlossen, ihr Leben zu ändern. Auch wenn sie am ganzen Körper schlotterte, weil ihr der Branntwein fehlte. Früher einmal war sie ein sehr gläubiger Mensch gewesen, wie sie sagte, und nun hatte sie endlich zu Gott zurückgefunden. Ihr armer Körper war zerschunden und missbraucht, aber ihre Seele war noch zu retten. Gott im Himmel hat sich ihrer in seiner unendlichen Gnade angenommen.«
»Bis der Teufel auftauchte?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.
Die Erinnerung überschwappte mich wie eine Flutwelle. Es war nur ein sehr verschwommenes und dunkles Bild, kaum mehr als ein wirrer Traum, aber plötzlich glaubte ich zu wissen, warum Eva Booth mich einen Satan genannt hatte. Ich hatte ihrem Gott im Himmel ins Handwerk gepfuscht. Mit irdischem Geld und teuflischem Schnaps.
»Bis Sie und dieser Mika auftauchten und Elizabeth aus dem Haus lockten«, bestätigte sie nickend und wandte sich zu mir um. »Sie haben die arme Frau ins Verderben gestürzt.«
»Sein Name ist Michael«, sagte ich. »Er arbeitet am Hafen.«
»Mag sein.«
»Und Elizabeth wurde Long Liz genannt. Jedenfalls von ihren Freiern.«
»Sie erinnern sich also?«
Ich nickte und zuckte zugleich mit den Schultern. Ich erinnerte mich lückenhaft an einen fürchterlichen Absturz in einer chinesischen Opiumhöhle in Mile End. An zu viel Laudanum und Absinth. An wüste Halluzinationen und noch mehr Opium. Und an einige anschließende Schnäpse im Cloak and Dagger, einer Hinterhofkaschemme an der Whitechapel Road, die vor allem von Hafenarbeitern, Tagelöhnern und Huren besucht wurde. Der Rest der Nacht war wie ein Fieberwahn, ein Trugbild. Ein Mann am Tresen fluchte über seine Freundin und dass er sie an die Gottesnarren verloren habe. Wir tranken und rauchten und steigerten uns in eine unbändige Wut hinein, die der Wirt mit immer mehr Schnaps befeuerte. Der Mann wollte die Frau irgendwo rausholen, notfalls mit Gewalt. Sie sei seine Freundin, seine Hure, sein Besitz, und das werde sie bleiben, auch wenn sie eine verdammte Säuferin und überhaupt ein elendiges Miststück sei. Sie gehöre ihm! Das werde er den missratenen Weibern in der Hanbury Street schon zeigen.
Ich hatte das alles tatsächlich vergessen und verdrängt. Vielleicht hatte ich auch innerlich dagegen angekämpft. Vor wenigen Stunden, als Michael vor mir gestanden und mich lauernd angestarrt hatte, da war mir sein Gesicht zwar vage bekannt vorgekommen, doch auf seine Frage, ob wir uns kannten, hatte ich wahrheitsgemäß geantwortet: »Nicht dass ich wüsste.« Die betreffende Nacht war wie ein undurchsichtiger Schleier gewesen. Doch jetzt lichtete sich der Nebel und brachte Bruchstücke einer hässlichen Szene zum Vorschein: zwei lärmende Gestalten vor dem Frauenheim in der Hanbury Street. Erboste Nachbarn, die sich beschwerten und mit der Polizei drohten. Heilsarmistinnen in Uniformen, mit Bibeln und frommen Sprüchen bewaffnet. Eine verschlafene Frau, die schließlich herauskam, um die Krawallmacher zum Schweigen und ihren Ex-Freund zur Vernunft zu bringen. Und ein verführerisches Angebot, das sie schlechterdings nicht ablehnen konnte.
»Sie haben Elizabeth in die Falle gelockt«, sagte Eva Booth.
»Nein«, antwortete ich. »Ich war die Falle.«
Es war meine Idee gewesen, die entlaufene Hure mit einer Pfundnote und die trockene Trinkerin mit einer Flasche Malzwhisky zu ködern. Wie hätte sie da Nein sagen können? Ja, wir hatten ihr eine Falle gestellt. Ich selbst war der Anwalt des Teufels gewesen und hatte saubere Arbeit geleistet.
Es war keineswegs so, dass mir der geifernde und vor Wut schäumende Kerl an meiner Seite in jener Nacht besonders sympathisch gewesen wäre, im Gegenteil. Doch der Gedanke, den Hirten der Heilsarmee ein Schäflein aus ihrer Herde zu stehlen, hatte mir ein fast kindliches Vergnügen bereitet. Ich hatte keine Ahnung, ob ich es anschließend mit Long Liz in irgendeiner Seitengasse getrieben hatte und was aus dem Geld und dem Whisky geworden war. Das war auch gar nicht wichtig. Das Ganze war aus meiner Sicht ein guter Streich gewesen, ein lustiger Spaß, mehr nicht.
»Wann war das?«, wollte ich von Eva Booth wissen.
»Vor etwa drei Wochen, Ende September«, antwortete sie und fixierte mich mit ihrem eisigen Blick. »Genau einen Tag, bevor sie ermordet wurde.«
Ich senkte den Blick und wäre am liebsten vor Scham und Ekel über mich selbst im Boden versunken. Dann jedoch kam mir ein anderer Gedanke, der mich wie unter Schmerzen zusammenfahren ließ. »Sie glauben doch nicht, dass ich sie ermordet habe«, rief ich und griff nach ihrem Arm. Da sie erschrocken zurückwich, ließ ich sie los und bat um Verzeihung. »Ich bin kein Mörder!«