Aus den Augenwinkeln sah ich zwei dunkle Gestalten rasch näher kommen.
»Ich könnte einer Frau niemals etwas antun«, fügte ich flehentlich hinzu.
»Woher wollen Sie das wissen?«, fauchte sie mich an. »Sie haben sich offensichtlich nicht im Griff und keine Ahnung, wozu Sie in der Lage sind, Mr. Ingram! Wie können Sie sich also sicher sein?«
»Nein!«, rief ich entsetzt und hob abwehrend die Hände. »Ich bin nicht der Ripper. Das müssen Sie mir glauben, Miss Booth.«
»Es mag sein, dass Sie ihr nicht die Kehle durchgeschnitten haben, aber ohne Sie würde Elizabeth jetzt noch leben«, antwortete sie, und ihre Worte waren so kalt und ungnädig wie ihr Blick. »Sie haben die Frau auf dem Gewissen!«
Dem war kaum etwas entgegenzusetzen. Eva Booth hatte recht. Wenn ich nicht geholfen hätte, Elizabeth Stride aus dem Frauenasyl zu locken, hätte der Ripper in der folgenden Nacht nicht die Möglichkeit gehabt, sie in einer dunklen Gasse zu ermorden. Womöglich hätte es eine andere Prostituierte getroffen, doch das war mir kein Trost. Vermutlich wäre Long Liz später ohnehin zu ihrem prügelnden Freund zurückgekehrt, aus Trunksucht oder weil sie Geld brauchte. Doch es wäre nicht in dieser Nacht gewesen. Nicht mit diesen fatalen Folgen!
Ja, Eva Booth hatte recht. Ich hatte die Frau auf dem Gewissen.
Beinahe wünschte ich mir, ich wäre noch so unwissend wie vor nicht einmal einer Stunde, als ich mich ungerecht behandelt gefühlt und selbstgefällig nach einer Erklärung verlangt hatte. Doch die Zeit war leider nicht zurückzudrehen, die Worte waren nicht ungesprochen zu machen, ich konnte das Wissen nicht aus meinem Hirn radieren.
»Oh Gott!«, entfuhr es mir. Und in einer unbeholfenen und unbeherrschten Geste stieß ich meine Hand zum Himmel, als wollte ich den zürnenden Gott, an den ich gar nicht glaubte, für all das verantwortlich machen.
»Nehmen Sie Ihren Arm herunter, Sir!«
Ich schaute verwirrt zur Seite und sah eine dunkle Polizeiuniform und einen erhobenen Schlagstock.
»Sofort!«
Statt dem Befehl des Polizisten Folge zu leisten, fuhr ich auf dem Absatz herum und merkte gar nicht, dass ich meine Hand zur Faust ballte.
»Seien Sie doch vernünftig!«, sagte der Heilsarmist neben dem Polizisten und streckte mir seine Hände entgegen, als wollte er mich umarmen. »Gewalt ist niemals eine Lösung.«
Ich starrte ihn an und erkannte den Mann vom Empfangstresen im Hauptquartier. Gegen meinen Willen musste ich laut lachen. Es war alles so absurd. Wie in einem Fiebertraum!
»Ich hatte Sie gewarnt!«
Im selben Moment landete der Knüppel krachend auf meinem Schädel. Der Schmerz schoss explosionsartig durch meinen Körper. Meine Knie knickten ein. Der Boden kam näher. Die Geräusche verstummten. Wie dumm, dachte ich noch. Dann wurde mir schwarz vor Augen.
DRITTER TEIL
»You could indeed exhibit anything in those days (…)
It was not the show, it was the tale that you told.«
(»Man konnte damals tatsächlich alles ausstellen (…)
Es ging nicht um die Vorführung, es ging um die Geschichte,
die man erzählte.«)
The Penny-Showman: Memoirs of Tom Norman, »Silver King«
FREITAG, 19. OKTOBER 1888
(AM TAG ZUVOR)
1
Die Curtain Tavern unterschied sich kaum von den umliegenden Kneipen in Shoreditch. Celia wäre niemals auf die Idee gekommen, dass sich im Hinterzimmer der etwas heruntergekommenen Schänke kuriose Gestalten und missgebildete Menschen dem gaffenden Publikum präsentierten. Nur ein winziges Plakat im Fenster wies auf die seltsamen Attraktionen hin, und ein unscheinbares Holzschild neben dem Eingang an der Straße bedeutete dem zufälligen Passanten, dass sich hier ein Penny Gaff namens The Sensation befand. Vermutlich ging die Kunde von Mund zu Mund, oder dem Inhaber der Kneipe war es schlichtweg egal, ob irgendjemand der MonstrositätenShow beiwohnte. Denkbar aber auch, dass es in diesem unwirtlichen Teil der Stadt einfach zu wenig zufällige Passanten gab, um einen größeren Aufwand zu rechtfertigen.
Der Pub befand sich nördlich des Bahnhofs Liverpool Street, in der Curtain Road, von der er auch seinen Namen erhalten hatte. Heather verriet Celia, dass sich vor hunderten von Jahren ein berühmtes Theater dieses Namens in der Nähe befunden habe. Von der Christ Church in Spitalfields war es nur ein kurzer Fußweg nach Shoreditch gewesen, doch die Gegend auf der Rückseite des Kopfbahnhofs war durch das Gewimmel der Gleise, die unzähligen Über-und Unterführungen und die vielen Nebengebäude, Stellwerke und Lokschuppen derart zerklüftet und unübersichtlich, dass sich Celia wie in einem Labyrinth vorgekommen war und vermutlich ohne Heathers Hilfe nicht mehr hinausgefunden hätte.
»Wahrscheinlich hat’s schon angefangen«, sagte Heather, als sie schließlich das Curtain betraten und drinnen von dichten Rauchschwaden und lautem Grölen empfangen wurden. »Vielleicht kriegen wir Nachlass.«
Celia wurde von Heather an der Hand durch den gut gefüllten Schankraum zu einer schmalen Tür neben dem Tresen geführt, auf der ein fleckiges Pappschild mit der Aufschrift »Sensation Gaff« angebracht war. Heather nickte Celia verschwörerisch zu und öffnete die Tür. Doch als sie sich unbemerkt in den Hinterraum stehlen wollten, wurden sie vom Wirt entdeckt und angeschnauzt: »Oi, ihr zwei Hübschen, macht ’nen Penny pro Nase!«
Celia fuhr erschrocken zusammen, doch Heather schielte durch die halb geöffnete Tür und antwortete: »Hat ja schon angefangen.«
»Dann ’nen Penny für zwei Nasen«, ließ sich der Wirt erweichen, tätschelte Celias Wange und streckte die offene Hand aus. »Will mal nicht so sein.«
Celia zahlte rasch und folgte Heather durch die Tür in einen abgedunkelten Raum, an dessen hinterem Ende eine niedrige Bühne von bunten Gaslichtern beleuchtet war. In einer Ecke stand ein Klavier, das aber im Augenblick nicht benutzt wurde. Auf der Bühne wurde eine Art Schauerstück aufgeführt, bei dem sich zwei maskierte Männer mit gezückten Messern auf eine leicht bekleidete Frau stürzten und wie im Blutrausch auf sie einstachen.
»Jack the Ripper«, vermutete Heather und setzte sich in die hinterste von sieben Stuhlreihen, die etwa zu zwei Dritteln gefüllt waren.
»Zwei Jacks?«, wunderte sich Celia und setzte sich neben sie.
Heather zuckte mit den Achseln und starrte fasziniert zur Bühne, wo der eine der Männer die Beine der am Boden liegenden Frau gewaltsam spreizte und so tat, als würde er sich geräuschvoll an ihr vergehen, während der andere unablässig mit dem Messer auf ihren Oberkörper einstach, bis das Blut in Strömen von der Klinge lief. Anscheinend hatte sie Beutel mit Tierblut in der Bluse versteckt. Celia wandte angewidert ihren Blick ab und betrachtete verschreckt das Publikum, das aus Männern, Frauen und sogar einigen Kindern bestand, die das blutrünstige Geschehen auf der Bühne lautstark kommentierten und beklatschten.
Glücklicherweise war die martialische Aufführung mit der fast vollständigen Entkleidung und dem dramatischen Tod der Frau bald beendet. Die Schauspieler verneigten sich und sammelten ihre schauerlichen Requisiten ein. Daraufhin betrat ein Mann im schäbigen Anzug und mit knittrigem Zylinder die Bühne und kündigte die nächste Sensation an.
»Werte Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir eine Frau, deren Rückgrat aus Kautschuk besteht und die mit ihren zierlichen Gliedmaßen die Gesetze der Natur widerlegt. Sie ist halb Frau, halb Schlange. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, aber mit Knochen aus vulkanisiertem Gummi. Aus dem fernen Ägypten, wo sie wie eine Pharaonin verehrt wird, heute bei uns zu Gast: Sheila, die Schlangenfrau von Shoreditch!«