Celia war fasziniert und hätte am liebsten nach einer Zugabe gerufen, doch schon betrat der Zeremonienmeister wieder die Bühne, schwenkte seinen Zylinder und kündigte eine weitere schockierende und blutrünstige Darstellung der Whitechapel-Morde an, was von den Zuschauern frenetisch bejubelt wurde. Sie skandierten: »Jack, Jack, Jack!«
Als die drei Schauspieler hinter dem Vorhang hervortraten und bereits nach kurzer Zeit ersichtlich war, worauf die Darbietung abermals hinauslaufen würde, entschuldigte sich Celia bei Heather und sagte, sie wolle lieber auf der Straße warten, als dem Gemetzel zuzuschauen.
»Aber wir haben bezahlt«, empörte sich Heather.
»Ich habe bezahlt«, korrigierte Celia und stand auf. »Du kannst gerne bleiben, wenn du willst. Wir sehen uns nach der Vorstellung auf der Straße.«
»Du verpasst was«, meinte Heather und deutete zur Bühne, wo einer der beiden Männer gerade den hinlänglich bekannten Dolch aus dem Hosenbund zog.
»Und wenn schon«, erwiderte Celia und ging.
2
Kaum hatte Celia den Pub verlassen und die Curtain Road betreten, schon bereute sie ihren übereilten und unbedachten Entschluss. Im Penny Gaff hätte sie zwar noch einmal die Imitation eines Ripper-Mordes ertragen müssen, doch hier allein vor der Tür bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie hatte immer noch die erste Darstellung des Mordes und der Vergewaltigung vor Augen und machte sich insgeheim darauf gefasst, tatsächlich vom Ripper überwältigt und in einen finsteren Durchlass gezerrt zu werden. Der Vollmond sorgte zwar dafür, dass die Umgebung nicht in völliger Finsternis versank, außerdem lag die Curtain Road, streng genommen, nicht im East End, doch die Straße und die umliegenden Höfe waren um diese Uhrzeit so verlassen und menschenleer, wie es sich ein Mörder nur wünschen konnte. Reumütig in das Kuriositätenkabinett zurückzukehren, kam für Celia nicht in Frage; das spöttische Grinsen von Heather hätte sie nicht ertragen. Und allein in der Schänke auf Heather und Maureen zu warten, erschien ihr auch nicht sehr ratsam. Zu frisch war die Erinnerung an die gestrigen Ereignisse im Cloak and Dagger. Und nicht jedes Mal würde sie ein mutiger Heilsarmist aus den Klauen der Betrunkenen retten. Also blieb sie vor der Tür der Curtain Tavern, als wollte sie nur mal kurz Luft schnappen. Während sie sich an die Mauer lehnte und in den Nachthimmel blickte, wanderten ihre Gedanken zurück zu den sonderlichen und verwirrenden Geschehnissen des Tages.
Seitdem Heather sie von der Christ Church fort-und hinter sich her in Richtung Shoreditch gezerrt hatte, war es Celia kaum möglich gewesen, einen klaren Gedanken zu fassen. Auf der einen Seite war sie begierig, mit der Frau zu sprechen, die den ominösen »Silver King« Tom Norman kannte und ihr womöglich Hinweise geben konnte, wo sie ihren Vater finden würde. Auf der anderen Seite brummte Celia der Schädel von den seltsamen Vorkommnissen der vergangenen Stunden. Dabei ging es nicht nur um Adam Bedford und dessen Frau und Kind, die auf dem Friedhof von Christ Church begraben waren, um ihre Aufnahme im Frauenasyl oder um die beiden weiblichen Captains der Heilsarmee, die auf Celia einen ebenso starken wie verwirrenden Eindruck gemacht hatten. Nein, es ging vor allem um das zufällige Zusammentreffen mit dem jungen Gentleman, dem sie schon am Bahnhof Waterloo begegnet war und den sie in der Brick Lane in derber Arbeiterkleidung wiedergesehen hatte. Der Mann mit dem Herz auf der Wange trat ihr plötzlich so plastisch vor Augen, als stünde er ihr leibhaftig gegenüber. Seine Züge hatten sich ihr regelrecht eingebrannt, nicht nur wegen des auffälligen Muttermals. Es lag etwas Widersprüchliches in diesem Gesicht, das einerseits so einnehmend wirkte, zugleich aber einem Mann gehörte, der in seltsamer Verkleidung pöbelnd durch die Straßen zog, um anderen Menschen körperlich oder seelisch weh zu tun. Wie vor einigen Stunden kam ihr erneut die Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde in den Sinn. Welche verwunschene Tinktur mochte bei dem Gentleman diese seltsame Wandlung hervorgerufen haben?
Doch es gab noch ein zweites Gesicht, das ihr jetzt, da sie in Ruhe darüber nachdachte, in den Sinn kam. Ein hässliches, bärtiges Gesicht, mit runzliger Säufernase und unangenehm stechenden Augen. Das Gesicht gehörte dem älteren Mann, an dessen Petroleumlampe sich der junge Gentleman beinahe verbrannt hätte. Es war der seltsame Blick dieses hässlichen Vogels, der Celia plötzlich ins Gedächtnis kam und ihr einen regelrechten Schauer über den Rücken jagte. Der Mann hatte sie nur kurz angeschaut, doch seine Augen hatten sich gewissermaßen in sie verbohrt, als würde er sie wiedererkennen und als wäre er überrascht, sie hier an diesem Ort zu sehen. Dabei war Celia diesem Mann noch nie unter die Raubvogelaugen getreten. An solch eine unansehnliche Visage hätte sie sich bestimmt erinnert.
Zwei völlig unterschiedliche Männer, der eine hübsch und jung, der andere garstig und verlebt, und doch hatten sie beide Celia auf eine ganz seltsame und verstörende Art angeschaut. Celia suchte nach dem Wort, das diesen Blick beschrieb, und fand es schließlich: vertraut!
Sie schüttelte sich bei dem Gedanken und zwang sich, an etwas anderes und Angenehmeres zu denken. Doch ihr wollte nichts einfallen, und so ging sie rastlos vor dem Pub auf und ab und wartete. Erst als ein später Kneipenbesucher sie grinsend von der Seite anschaute und anzüglich die Augenbrauen hob, wurde ihr bewusst, dass man ihr unnützes Herumschlendern auch anders deuten konnte, nämlich als Warten auf Kundschaft. Und so zog sie sich rasch in eine dunkle Passage auf der gegenüberliegenden Straßenseite zurück, wo sie sich auf eine Holzkiste setzte und den Eingang der Curtain Tavern im Auge behielt.
Celia wusste nicht genau, wie viel Zeit verstrichen war, bis Heather und Maureen endlich erschienen, doch als sie gefolgt von der bärtigen Frau und dem riesigen Schlaks den Pub verließen, war Celia beinahe eingeschlafen und hielt sich nur noch wankend auf der Holzkiste.
»Hättest bleiben sollen, Kleine«, wurde sie von Heather begrüßt. »Es ging noch richtig zur Sache.«
»Das kann ich mir denken«, antwortete Celia und gähnte.
»Komm, Schätzchen!«, sagte Maureen und winkte Celia zu sich. Sie schulterte eine große Reisetasche aus Leder und setzte hinzu: »Es ist nicht weit.«
Bereits nach wenigen Minuten hatten sie die Luke Street erreicht. Dabei handelte es sich um eine kleine, dunkle Seitengasse, die vor allem von backsteinernen Lagerhäusern und ärmlichen Kontorgebäuden gesäumt wurde. Auch das Haus, vor dem Maureen nun Halt machte, war ein solches Lagerhaus, wie die vergitterten Fenster im Erdgeschoss, die Seilwinden im Dachgiebel und die großen Ladeluken auf jedem der vier Stockwerke bewiesen.
»Hier wohnst du?«, fragte Heather und runzelte skeptisch die Stirn.
Celia wunderte sich über Heathers abschätzigen Tonfall, denn immerhin wohnte sie selbst in einem Frauenasyl der Heilsarmee und verbrachte ihre Nächte in einer sargähnlichen Holzkiste.
»Hier wohnen wir«, antwortete Maureen und deutete auf die bärtige Frau und den Riesen. »Luisa und Carlos sind ebenfalls hier untergebracht. Wie die meisten Darsteller aus dem Curtain. Aber meine Tage in der Luke Street sind gezählt. Nächste Woche bin ich weg. Dann habt ihr die Bude für euch allein.«