Celia verstand nicht, was die Männer von ihr wollten. Schließlich hatte sie seit Mutters Tod schon oft das Haus verlassen und sich um die Beerdigung und die Begleichung der Schulden gekümmert. Ihre Mutter war seit Wochen krank gewesen, und in der ganzen Zeit hatte niemand von Quarantäne gesprochen.
»Das Schreiben kommt aus Colchester«, sagte Dr. Arthur und deutete auf den amtlichen Stempel, als wäre das ein schlagkräftiges und nicht zu debattierendes Argument. Mit Typhus sei nun mal nicht zu spaßen, meinte der Arzt in mahnendem Ton und versprach, regelmäßig nach dem Rechten zu sehen. Da Celia sich bislang nicht angesteckt habe, sei nicht davon auszugehen, dass sie noch erkranken werde. Und der Mann vom Gemeinderat, der zuvor immer nur genickt und geschwiegen hatte, fügte väterlich hinzu, dass Celia in der betreffenden Zeit natürlich mit allem Nötigen versorgt würde. Dafür komme die Gemeinde von All Saints selbstredend aus Spendenmitteln auf. Sie überreichten ihr das Schreiben und verabschiedeten sich.
Celia nickte verschüchtert, schloss hinter ihnen die Tür und hörte, wie draußen etwas an die Wohnungstür genagelt wurde. Vermutlich eine amtliche Verlautbarung oder etwas in der Art. Für einen kurzen Augenblick befürchtete sie, man werde die ganze Tür vernageln, als wäre die Pest im Haus. Doch dann hörte sie die Schritte der Männer auf der Treppe und das Schlagen der Haustür, und im selben Moment traf sie eine Entscheidung. Sie wollte sich nicht so ohne Weiteres wegsperren lassen, denn sie hatte nichts verbrochen. Und auf die Almosen der Gemeinde konnte sie erst recht verzichten. Plötzlich erschien ihr der Gedanke, nach Southampton zu fahren und ihren Vater zu suchen, gar nicht mehr so abwegig. Jedenfalls nicht abwegiger, als in Brightlingsea zu bleiben, wo sie weder Familie noch Arbeit hatte und man sie nun auch noch wie eine Gefangene behandelte.
Celia wusste, dass in den frühen Morgenstunden des kommenden Tages eine Segeljacht, die in den Docks überholt worden war, nach Southampton überführt werden sollte. Ein Freund der Familie hatte als Schiffszimmermann bei der Reparatur geholfen und Celia davon erzählt, dass er die Gelegenheit nutzen wolle, an der Südküste entlang nach Southampton zu gelangen, um dort auf einem großen Segler anzuheuern und nach Amerika auszuwandern. Es kam ihr vor wie ein Wink des Schicksals. Nichts sprach dagegen, dass Celia ihn auf dem ersten Teil seiner Reise begleitete. Es musste ja niemand erfahren, was die wahren Gründe dafür waren. Sie würde lediglich behaupten, sie müsse dringend in einer Familiensache nach Southampton. Da ihre Mutter gerade gestorben war, würde niemand an Bord peinliche Fragen stellen oder ihr die Mitfahrt verweigern.
Kurz vor Sonnenaufgang stand sie mit ihrem Lederkoffer an den Docks. Und ehe jemand im Ort von ihrem Vorhaben erfuhr, war sie schon auf dem Weg zur Südküste Englands. Heimlich und ohne sich zu verabschieden. Genau wie ihr Vater vor acht Jahren.
Jemand rief: »Whitechapel Road und Mile End!«
Celia wachte wie aus einem Traum auf und schaute sich verwirrt um. Sie war so in ihren Erinnerungen versunken gewesen, dass sie kaum auf ihre Schritte oder die Umgebung geachtet hatte. Sie hatte lediglich die Anweisungen des Droschkenkutschers befolgt, war an der Themse entlang zum Tower und von dort weiter in nordöstlicher Richtung gelaufen. Inzwischen war die Sonne untergegangen, und die schmalen und eng bebauten Straßen wurden von den spärlichen Gaslaternen nur notdürftig beleuchtet. Auch der beinahe volle Mond stand so tief über den Dächern, dass sein Licht nicht bis auf den Boden fiel. Celia stand an einer viel befahrenen Straßenkreuzung und las auf einem Metallschild an einer Hauswand: »Fenchurch Street«. Wieder rief jemand: »Whitechapel Road und Mile End!« Und eine Glocke wurde geschlagen.
Celia schaute in Richtung der Glocke und sah etwas, das sie noch nie zuvor gesehen hatte: einen Wagen, der auf in das Straßenpflaster eingelassenen Schienen fuhr und von Pferden gezogen wurde. Eine Pferde-Eisenbahn. Auf einen derart seltsamen Einfall konnte man nur in einer Stadt wie London kommen, dachte Celia. Und vielleicht war es gerade die Absonderlichkeit des Gefährts, die Celia auf die Kreuzung laufen und dem uniformierten Mann auf dem Führerstand zuwinken ließ.
»123 Whitechapel Road?«, fragte sie.
»Macht ’nen Penny die Meile.«
Celia öffnete ihre Geldbörse und zögerte beim Anblick der wenigen Münzen, die noch darin waren. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Ha’penny tut’s auch«, sagte der Bahnkutscher und zwinkerte ihr zu. »Weil’s schon so spät ist, Miss.«
Celia lächelte dankbar, gab dem Mann die Bronzemünze und stieg in den Waggon der Straßenbahn.
* Anmerkungen und Übersetzungen im Anhang
2
Das Haus mit der Nummer 123 war ein unscheinbares zweistöckiges Backsteingebäude mit rotem Spitzdach und einem weit vorstehenden Erker im ersten Stock. Wie bei den meisten Häusern in der Umgebung fiel der Putz von den Wänden, die hölzernen Stützbalken und Fensterläden waren verwittert. Je weiter die Pferdebahn nach Osten gefahren war, desto ärmlicher waren die Behausungen geworden. Mit bangem Blick hatte Celia vom Wagen aus verfolgt, was sich ihr im Halbdunkel der relativ breiten Hauptstraße und im Gewirr der kleineren Nebengassen und Höfe präsentierte. Sie sah betrunkene Männer, die durch die Gossen wankten oder an Mauern gelehnt ihren Rausch ausschliefen, aber auch schamlos gekleidete Frauen, die sich in aller Offenheit vor den zahlreichen Pubs den Freiern anboten, und zerlumpte Kinder, die neben der Straßenbahn herliefen, um die Passagiere anzubetteln oder zu beschimpfen, wenn sie kein Geld herausrücken wollten. Ganze Familien sammelten sich unter den Gaslaternen, um dort auf einer Sitzbank die Nacht zu verbringen. Obwohl die Sonne vor mehr als einer Stunde untergegangen war, tummelten sich die Menschen auf den Straßen, als hätten die meisten von ihnen kein Zuhause. Als Celia im Vorbeifahren auf der linken Straßenseite das Gebäude mit der Hausnummer 123 erkannte, stieß sie einen leisen Schrei aus, fasste sich an die Brust und hatte beinahe Angst, an der nächsten Haltestelle die Straßenbahn zu verlassen.
Es waren nicht das vernachlässigte Aussehen der Fassade oder die Erbärmlichkeit der Nachbarschaft gewesen, die Celia einen solchen Schrecken eingejagt hatten, sondern das vollständige Fehlen eines Schildes oder Schaufensters. Wieder starrte sie auf die Ansichtskarte in ihrer Hand und verglich sie mit dem darauf abgelichteten Original. Wo auf dem Papier ein Holzschild mit der Aufschrift »The Silver King« über dem Eingang prangte, da befand sich nun ein dunkles Loch im Mauerwerk. Und wo auf dem Bild ein Schaufenster mit Plakaten und Bildern auf vermeintlich sehenswerte Kuriositäten und absonderliche Gestalten aufmerksam machte, da sah Celia nur eine mit Brettern verschlagene und glaslose Nische. Das Kuriositätenkabinett des sogenannten »Silberkönigs« war verschwunden, die gesamte Ladenwohnung verwaist und vernagelt.
Celia drehte die Postkarte um, und obwohl es zu dunkel war, um irgendetwas zu entziffern, las sie in Gedanken die Worte, die sie längst auswendig kannte:
An Mr. Sydney Egerton, County Tavern,
118 Millbank Street, Northam, Southampton.
Lieber Mr. Egerton.
Bin in London angekommen. In dringenden (!) Fällen – Nachricht an Tom Norman, The Silver King, 123 Whitechapel Road, London E.
Beste Grüße
Ned Brooks
Beim Blick auf die leer stehende Ladenwohnung dachte Celia an das, was Mr. Egerton, der Wirt der County Tavern, ihr prophezeit hatte. Noch am Morgen hatte er sie gewarnt: »Du wirst deinen Vater nicht finden. Nicht in London und auch sonst nirgendwo. Weil er nämlich nicht gefunden werden will. Lass es bleiben, Kind, und fahr nach Hause!«
»Ich hab kein Zuhause mehr.«
»Dann such dir ein neues«, hatte Mr. Egerton achselzuckend geantwortet. »Aber nicht bei Ned Brooks. Das würdest du nur bereuen. Vergiss deinen Vater, das ist mein Rat. Er ist es nicht wert.«