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»Hätte ja sein können«, murmelte Celia enttäuscht.

Hinter dem Bettvorhang tuschelten Luisa und Carlos auf Spanisch miteinander.

»Genug geplaudert«, mischte sich Heather ein. Sie hatte ihren Becher ausgetrunken, stand auf und klatschte laut in die Hände. »Wir müssen los, Kindchen, sonst lassen sie uns nicht mehr rein.«

»Wo rein?«, wunderte sich Maureen.

»Hanbury Street«, antwortete Heather ausweichend. »Da wohnen wir.«

»Im Frauenasyl«, setzte Celia hinzu und erntete einen bösen Blick.

»Verstehe«, sagte Maureen. Sie war nicht Schauspielerin genug, um ihre Genugtuung zu verbergen. »Dann beeilt euch, damit ihr nicht auf der Straße übernachten müsst. Aber wir sehen uns bestimmt bald wieder.«

»Bestimmt«, antwortete Heather, aber es klang wie: »Lieber will ich sterben!«

»Caníbal del mar«, sagte Luisa in diesem Augenblick hinter ihrem Vorhang, allerdings so laut, dass die Worte unmöglich für Carlos bestimmt sein konnten.

»Was heißt das?«, wollte Maureen wissen.

»Kannibale von Meer«, erklärte Luisa und schaute hinter dem Vorhang hervor. »War Matrose bei Silver King. Hab ich gearbeit auch für Norman dann.«

»In der Whitechapel Road?«, fragte Celia mit bangem Herzen.

»Da und anders«, antwortete Luisa. »War ich nicht lange in Engeland und können ich nicht gut Sprache.«

»Ein Glück, dass du die Sprache in der Zwischenzeit beherrschst«, lachte Heather und bekam von Maureen einen Tritt gegen das Schienbein.

»Warum Kannibale des Meeres?«, fragte Celia.

»Menschenfressen«, sagte Luisa und fuhr sich über den Bart.

»Ich weiß, was ein Kannibale ist«, sagte Celia mit zittriger Stimme und näherte sich dem Bettvorhang. »Hieß dieser Matrose Ned Brooks?«

»No sé«, antwortete Luisa, »war Name nur Kannibale von Meer. Fressen Menschen. Essen rotes Fleisch auf Bühne. Und viel trinken Alkohol. Immer betrunken vor Auftritt. Mehr weiß nicht. Perdón!« Damit verschwand ihr Gesicht wieder hinter dem Vorhang.

Celia schaute Hilfe suchend zu Maureen, doch die hob lediglich bedauernd die Schultern und schob die Unterlippe vor. »Von dem Kannibalen hab ich nie gehört. Wenn du was über deinen Vater wissen willst, solltest du mit Tom Norman sprechen. Er wird dir mehr sagen können.«

»Weißt du, wo er ist?«

Wieder schob Maureen die Unterlippe vor. »Wir haben keinen Kontakt mehr«, sagte sie und lächelte gequält. »Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hatte er ein gutes Dutzend Penny Gaffs in ganz England. Keine Ahnung, wo der sich gerade herumtreibt.«

Celia nickte, hob die Hand zum Gruß und folgte Heather hinaus.

»Brauchst du eigentlich Arbeit, Heather?«, fragte Maureen, während sie das Laken zur Seite hielt. »Ich könnte dir was beschaffen.«

»Soll ich auch meine Gräten verbiegen?«, antwortete Heather schnippisch. »Oder mir ’nen Bart wachsen lassen?«

»Ich bräuchte eine Assistentin, wenn ich im People’s Palace auftrete«, sagte Maureen und schaute drein, als wüsste sie genau, wie Heather reagieren würde. Als hätte sie diese Frage nur aus diesem einen Grund gestellt. »Ich könnte zwar nicht viel zahlen«, setzte sie achselzuckend hinzu, »aber für ’ne vernünftige Bleibe würde es allemal reichen. Was sagst du?«

»Deine Assistentin?«, entfuhr es Heather, während sie auf dem Absatz herumfuhr und zum Treppenhaus stapfte. »Soll ich dir beim Anziehen und Pudern helfen? Oder willst du auch noch den Hintern abgewischt bekommen? Assistentin! So weit kommt’s noch!«

»War nur ’ne Frage«, meinte Maureen grinsend und ließ den Vorhang fallen.

Nein, das war keine Frage, dachte Celia und schloss die Tür hinter sich. Es war eine Retourkutsche.

SAMSTAG, 20. OKTOBER 1888

3

Beim Frühstück in der Küche des Frauenheims gab es nur ein beherrschendes Thema: den gestrigen Angriff der Skelettarmee auf die Versammlung vor dem Ten Bells Pub. Einige der uniformierten Heilsarmistinnen und manche der übrigen Frauen hatten Kratzer und Schrammen im Gesicht, die alte Esther trug ihren rechten Arm in einer Schlinge. Auf Heathers spöttische Frage, ob sie sich beim Rasentennis verletzt habe, antwortete Esther mit einem donnernden: »Der Zorn Gottes wird über die Gottlosen kommen!« Es war nicht klar, ob ihre Worte auf Heather oder die Soldaten der Skelettarmee abzielten.

Während um sie herum kopfschüttelnd gemunkelt und gemutmaßt wurde, wer wohl hinter dem feigen Anschlag und dem gemeinen Einfall mit den Ratten stecken mochte, starrte Celia wie versteinert auf den Tisch, löffelte lustlos ihren Haferbrei und war in ihrem Kopf meilenweit und Jahre entfernt.

»Und?«, wurde sie von der neben ihr sitzenden Heather aus ihren Gedanken gerissen. »Glaubst du, dass er’s war?«

Celia hob den Blick und schaute in Heathers grienendes Gesicht, das dem ihren so nahe war, dass sie Heathers schlechten Atem riechen konnte. »Wovon redest du?«, fragte sie, obwohl sie es genau wusste.

»Von deinem Vater. Glaubst du, dass er ein Menschenfresser ist?«

Celia nahm einen Löffel Porridge und schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Ich meine, könnte doch sein, oder?«, beharrte Heather und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Kannibale des Meeres! Würde zu ihm passen. Immerhin war dein Vater Matrose.«

Celia warf den Löffel in die Schüssel, dass der Brei spritzte, und rief: »Unfug!«

Das Dumme war nur, dass sie selbst diesen Unfug für gar nicht so abwegig hielt. Seit dem gestrigen Abend hatte Celia an nichts anderes denken können, und auch in den Alpträumen, die sie in der Nacht gequält hatten, war es nur um diese Frage gegangen: War ihr Vater jener ständig betrunkene »caníbal del mar«, von dem die bärtige Luisa gesprochen hatte? War das der Grund, warum die Leute in Southampton ihn einen Judas und feigen Verräter schimpften?

Nein, dass ihr Vater ein Kannibale war, konnte und wollte Celia nicht glauben. Außerdem war so ein Penny Gaff nur schauriger Firlefanz, den man nicht ernst nehmen konnte. Dann jedoch erinnerte sich Celia, was ihre Mutter auf dem Sterbebett gesagt hatte: »Dein Vater ist ein Verbrecher! Ein verdammter Teufel! Hüte dich vor ihm, Celia!«

Und mit einem Mal kam ihr eine Begebenheit in den Sinn, an die sie schon lange nicht mehr gedacht und die sie beinahe vergessen hatte. Es war nur ein nichtiger und eigentlich belangloser Vorfall, der ihr jetzt aber in einem anderen Licht erschien. Es war in Brightlingsea gewesen, in jenem Jahr 1884, kurz vor Weihnachten. Celia hatte nur eine vage Erinnerung daran, doch je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihr, dass sie damals unwissentlich Zeugin eines Gesprächs über ihren Vater geworden war.

Es war eine stürmische Winternacht gewesen, wie so häufig an der Küste von Essex. Der Wind hatte geheult und durch die Ritzen gepfiffen, dass es wie Katzenjammer klang. Celia hatte in ihrem Bett gelegen und neben sich das leise Schnarchen ihrer älteren Brüder John und Peter gehört, die früh am nächsten Morgen zu ihrem ersten Austernfang auslaufen sollten. Bart Hutchinson wollte sie auf einem Segelkutter in den Umgang mit Scharrnetzen und Streicheisen einweisen. Der alte Walfänger bevorzugte es, in den unwirtlichen Herbst-und Wintermonaten in den heimischen Gewässern und Flussmündungen zu fischen, statt im eisigen Nordatlantik auf Walfang zu gehen.

Seit Stunden lag Celia wach und horchte hinaus in den Sturm. Sie machte sich Sorgen um ihre Brüder, auch wenn die meisten Austernbänke nicht weit draußen vor der Colne-Mündung lagen und Mr. Hutchinson ein erfahrener Seemann war. Vielleicht war Celia auch deshalb so unruhig, weil sie begriff, dass mit dem morgigen Tag ein neuer Abschnitt im Leben von John und Peter beginnen würde. Sie würden nicht länger mit Celia zur Pfarrschule von All Saints gehen, nicht länger die übrige Zeit bei der Familie oder im Umkreis der kleinen Wohnung verbringen, sondern sich von nun an als Erwachsene fühlen und benehmen. Zwar hatten sie auch vorher schon beim Fischfang oder beim Flicken der Netze und dem Kalfatern der Boote geholfen, doch das war etwas anderes gewesen. Kinderkram, wie John und Peter es geringschätzig nannten.