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Dass die beiden wie ihr Vater und die meisten anderen Männer aus dem Dorf zur See fahren würden, stand seit Langem fest und war nie wirklich hinterfragt worden. Die Arbeit im Schiffsbau, am Hafen oder in den Docks kam für die Jungs nicht in Frage, sie wollten hinaus aufs Meer. Doch ob sie sich eher für den Austernfang, die Hochseefischerei, die Überseeschifffahrt oder womöglich für Jachtregatten eigneten, das sollten die nächsten Monate und Jahre zeigen. Celia hatte das Gefühl, es stünde ihr ein bedeutsamer Abschied bevor, und diese beklemmende Vorstellung ließ sie keinen Schlaf finden.

Ein Klopfen an der Wohnungstür riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Als sie wenig später die knarrende Stimme von Mr. Hutchinson hörte, schlich sich Celia aus dem Bett und lugte durch einen Türspalt in den winzigen Flur. Sie sah gerade noch, wie ihre Mutter mit dem Nachbarn in der Küchenstube verschwand, und huschte aus dem Schlafzimmer, in dem die ganze Familie Brooks schlief. Alle außer dem Vater, versteht sich.

Celia wunderte sich, dass Bart Hutchinson mitten in der Nacht bei Mary Brooks erschien, obwohl er doch in wenigen Stunden bereits wieder auftauchen würde, um die Jungs abzuholen. Es musste also etwas Dringendes sein, das er mit der Mutter zu besprechen hatte. Oder etwas, von dem die Kinder nichts erfahren durften. Celia lugte durch das Schlüsselloch, doch da sie außer Schemen nichts erkennen konnte, legte sie behutsam ihr Ohr an die Tür.

Was die Mutter sagte, konnte Celia nicht verstehen, doch der alte Mr. Hutchinson, der selbst ein wenig schwerhörig war, redete sehr laut und für Celia vernehmlich. »Bist du sicher, dass du’s lesen willst, Mary?« Es folgte eine unverständliche Antwort. Und wenig später sagte Mr. Hutchinson: »Sie wurden inzwischen begnadigt. Wenigstens das! Sechs Monate Holloway.« Wieder antwortete die Mutter, und wieder war kein Wort davon zu verstehen. Schließlich hörte Celia Mr. Hutchinson sagen: »Die Leute von Tollesbury wollen eine Petition an den Innenminister schicken.«

»Die muss ich unterschreiben!« Die Mutter hatte ihre Antwort so laut und heftig hervorgestoßen, dass Celia unwillkürlich zusammenzuckte und mit dem Ellbogen gegen den Türrahmen stieß. Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und die Mutter stand vor ihr. Bevor Celia etwas sagen konnte, landete eine schallende Ohrfeige in ihrem Gesicht.

»Ab mit dir ins Bett!«, rief die Mutter und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger zur Schlafzimmertür. »Sonst fängst du dir noch eine.«

»Ja, Ma’am!« Celia nickte, duckte sich und flüchtete in ihr Bett, wo sie den Kopf unter die Bettdecke steckte und die Augen schloss. Das Bild der wütenden Mutter wurde sie dennoch nicht los. Mary Brooks hatte ein bedrucktes Blatt Papier in der Hand gehalten, und über ihre roten Wangen waren Tränen gelaufen.

Während draußen Mr. Hutchinson zur Wohnungstür ging und von der Mutter leise verabschiedet wurde, versuchte Celia zu begreifen, was sie soeben gehört hatte. Welche »Leute von Tollesbury« hatte Mr. Hutchinson gemeint? Tollesbury war ein kleiner Ort an der Mündung des Flusses Blackwater, nur etwa drei Meilen von Brightlingsea entfernt. Doch dort kannten sie niemanden, jedenfalls hatte Celia bislang nie etwas davon gehört. Und noch einen zweiten Begriff hatte der Walfänger benutzt, mit dem sie nichts anzufangen gewusst hatte.

Celia kehrte plötzlich aus ihren Erinnerungen in die Gegenwart zurück und wandte sich unvermittelt an Heather: »Was ist Holloway?«

»Jesses!«, entfuhr es Heather, die vor Schreck fast ihren Löffel mit Porridge fallen ließ. »Du kannst einen vielleicht erschrecken.«

Celia wiederholte ihre Frage.

»Das liegt oben in Islington«, antwortete die alte Esther, die gerade mit einer Kanne Milch von Tisch zu Tisch ging.

»Und was ist in Holloway?«, wollte Celia wissen.

»Nicht viel eigentlich«, antwortete Esther und schenkte Celia nach. »Jedenfalls nichts Wichtiges. Außer dem Castle natürlich.«

»Castle?«, fragte Celia.

»So nennen sie das Gefängnis dort«, mischte sich Heather ein. »Holloway Castle. Weil’s aussieht wie eine Burg. Will nur keiner freiwillig drin wohnen.«

»Das Gefängnis«, sagte Celia leise. »Verstehe.« Sie bedankte sich bei Esther und starrte auf ihre Schüssel, um Heathers fragendem Blick auszuweichen.

Sechs Monate Holloway! Die Mutter mit einem Blatt Papier in der Hand. Und die Tränen auf ihren Wangen. Celia hatte das unbestimmte Gefühl, irgendetwas nicht bedacht, etwas übersehen zu haben, obwohl es direkt vor ihrer Nase lag. Plötzlich sprang sie auf und rief: »Die Papiere!«

»Welche Papiere?«, wunderte sich Heather.

Doch Celia antwortete nicht, lief stattdessen aus der Küche, eilte die Treppe hinauf und rannte zu ihrem Bett in der Ecke. »Mach dich bereit zu sterben«, mahnte der Sinnspruch an der Wand. Vorher werde ich aber erst noch herausfinden, was mit meinem Vater ist, dachte sie bei sich, als sie den Lederkoffer unter ihrem Bett hervorzog.

»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte Heather, die ihr gefolgt war und nun laut schnaufend neben ihr stand. »Verrückt geworden oder was?«

Ohne zu antworten, öffnete Celia den Koffer, nahm ihre Kleider heraus und kippte den restlichen Inhalt auf ihr Bett. Zum Vorschein kamen Zeitungsausschnitte, Postkarten, einige Bücher und Broschüren, wertlose Erinnerungsstücke, Krimskrams. »Die Papiere«, wiederholte Celia. »Die Antwort ist irgendwo darin verborgen!«

Heather schob die Unterlippe vor und runzelte die Stirn, setzte sich aber und griff im selben Augenblick nach einem der Bücher. Diesmal ließ Celia es geschehen. Vielleicht würde Heathers unvoreingenommener Blick etwas entdecken, das Celia bislang entgangen war.

»Murray’s Modern London 1860«, las Heather den Titel des Buches. »Nicht gerade auf dem neuesten Stand.«

»Das Buch gehörte meiner Mutter«, sagte Celia achselzuckend. »Sie hat früher in London gearbeitet. Ist lange her.«

Heather nickte, legte das Handbuch beiseite und griff nach einer Postkarte.

Währenddessen schaute Celia auf die Fotografie der Familie und strich mit dem Zeigefinger über die Gesichter ihrer Brüder, die inzwischen als Leichtmatrosen für die Cunard Line zwischen Liverpool, Queenstown und New York fuhren, allerdings auf unterschiedlichen Dampfschiffen. John, der ältere der beiden, hatte auf der Etruria angeheuert, und Peter, gerade erst achtzehn Jahre alt geworden, fuhr auf der Aurania über den Atlantik. Sie waren seit anderthalb Jahren nicht in Brightlingsea gewesen. Nach dem Tod der Mutter hatte Celia der Cunard Reederei in Southampton und dem Heimathafen der Dampfer in Liverpool ein Telegramm geschickt, doch sie wusste nicht, ob ihre Brüder die Nachricht inzwischen erhalten hatten.

»Meine Güte!«, rief Heather ärgerlich, »dieser Mr. Hutchinson hat ja ’ne fürchterliche Klaue!« Sie las die Postkarte aus Southampton, indem sie die krakelig geschriebenen Worte laut buchstabierte, und setzte schließlich hinzu: »In der County Tavern warst du vermutlich schon, oder?«

Celia nickte, legte die Fotografie beiseite und sagte: »Von den Egertons hab ich die Adresse in Whitechapel.«

»Du meinst die Ansichtskarte vom Silver King«, sagte Heather wissend und fragte: »Von dem Menschenfresser haben die in Southampton nichts erzählt?«

Celia schüttelte den Kopf, faltete den Ausschnitt der Illustrated London News auseinander und starrte zum vermutlich hundertsten Mal auf die herausgeschnittene Seite. Heather schaute ihr über die Schulter und las laut: »Expedition zum Nil … Ägypten … Sudan … General Gordon.« Es entstand eine Pause, und schließlich fragte Heather: »War dein Vater in Afrika?«