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»Keine Ahnung«, antwortete Celia. »In dem Artikel wird er jedenfalls nicht erwähnt. Ich weiß nicht, warum Mutter den Zeitungsausschnitt aufbewahrt hat.«

»Na, schlag mich tot!«, entfuhr es Heather.

»Was hast du?«

Heather deutete auf die Zeitung und sagte: »Todesurteil gegen den Kannibalenkapitän.«

Celia erstarrte und schaute ungläubig auf die Zeilen. Der Artikel, dessen Schlagzeile Heather vorgelesen hatte, befand sich am unteren Rand der Seite und bestand lediglich aus einer einzigen Spalte, die im Vergleich zum reich bebilderten Hauptartikel über die Gordon Relief Expedition geradezu winzig erschien. Als sie die Zeitung zum ersten Mal in der Hand gehabt hatte, war ihr der Artikel zwar aufgefallen, aber von einem Kannibalen hatte sie damals noch nichts gehört, erst recht hatte sie das Wort noch nicht mit ihrem Vater in Verbindung gebracht. Der Text berichtete in knappen und sehr steif klingenden Formulierungen von dem Urteilsspruch eines Londoner Gerichts (»wir berichteten«, wie die Zeitung in Klammern schrieb) gegen zwei des Mordes überführte Seeleute:

»Die Schiffbrüchigen Thomas Dudley, zweiunddreißig Jahre alt, und Edwin Stephens, siebenunddreißig Jahre, töteten am fünfundzwanzigsten Tag im Juli des Jahres 1884 auf hoher See innerhalb der Jurisdiktion der Admiralität von England auf verbrecherische Weise, absichtlich und mit Mordvorsatz einen gewissen Richard Parker, Kabinenjunge an Bord der Segeljacht Mignonette, um dessen Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken. Trotz der unbestrittenen Notsituation, in der sich Kapitän Dudley und sein Maat Stephens nach dem Untergang ihres Schiffes befanden, wurden die beiden Angeklagten für das Verbrechen des vorsätzlichen Mordes schuldig gesprochen. Deshalb lautet das Urteil des Gerichts, unter Vorsitz von Lord Coleridge, dass sie an einem noch festzulegenden Tag zur Richtstätte geführt und am Halse aufgehängt werden, bis ihre Körper tot sind.«

»Das ist ja ’n Ding«, lautete Heathers Kommentar.

Celia war nach der Lektüre des Textes beinahe noch verwirrter als zuvor, denn von einem Ned Brooks war auch in diesem Artikel nicht die Rede. Sonst wäre sie bereits beim ersten Lesen über ihn gestolpert. Trotzdem war sie sich inzwischen sicher, dass ihre Mutter die Zeitungsseite nicht wegen der Nil-Expedition, sondern wegen des Urteils im Kannibalenprozess aufgehoben hatte. Und es war bestimmt kein Zufall, dass Luisa den »Kannibalen des Meeres« als eine der früheren Attraktionen des Silver Kings bezeichnet hatte. Jenes Penny Gaffs, mit dem auch Celias Vater in irgendeiner Weise verbunden gewesen war. Im Jahr 1884, dem Jahr des Kannibalenprozesses. Wie hatte Mr. Hutchinson in der Sturmnacht gesagt? »Sie wurden inzwischen begnadigt. Sechs Monate Holloway.«

Es war zum Verrücktwerden! Wie hing das alles zusammen? Und welche Rolle spielte Celias Vater, den man in Southampton einen Verräter und Judas nannte, in diesem Durcheinander? Celia war nicht wirklich klüger als zuvor. Eines jedoch schien dieser Artikel zu belegen: Ned Brooks war nicht der Kannibale des Meeres. Die Menschenfresser hießen Thomas Dudley und Edwin Stephens.

»War dein Vater Matrose auf dieser Mignonette?«, fragte Heather, der offenkundig die gleichen Fragen durch den Kopf gingen. »Hat er auch Schiffbruch erlitten? Sagen dir die Namen der Männer was?«

Celia schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern.

»Dein Vater heißt Ned, nicht wahr?«, bohrte Heather weiter.

Celia nickte.

»Steht die Abkürzung vielleicht für Edwin?«

»Nein, für Edmund«, antwortete Celia. »Aber so hat ihn nie jemand genannt. Außerdem heißt mein Vater nicht Stephens, sondern Brooks.«

»Könnte ja sein, dass er sich umbenannt hat.«

»Warum?«, entfuhr es Celia.

»Damit Leute wie du oder deine Mutter ihn nicht finden«, erklärte Heather mit vor Aufregung roten Wangen. »Er hat euch sitzen lassen, stimmt’s? Da wär’s doch nur konsequent, wenn er sich ’nen anderen Namen zulegt. Um sich zu tarnen.«

»Aber das war ein Mordprozess vor einem königlichen Gericht«, sagte Celia, deutete auf die Zeitung und schüttelte entschieden den Kopf. »Meinst du, so ein Lord Coleridge lässt sich so einfach an der Nase rumführen? Oder die Zeitungen, die darüber berichten? Das wäre doch rausgekommen. Und in Southampton hat mein Vater auch noch unter seinem richtigen Namen gelebt. Im selben Jahr!«

Heather legte den Kopf schräg, zuckte mit den Schultern und sagte: »Dann weiß ich auch nicht.«

»Wir berichteten …«, meinte Celia nachdenklich.

»Hm?«, machte Heather.

»Die Zeitung! Die haben vorher schon darüber geschrieben. Und andere Zeitungen wahrscheinlich auch.«

»Ja«, knurrte Heather abfällig. »Vor vier Jahren! In die Zeitungen von damals sind nicht mal mehr Fische eingewickelt. Wo willst ’n die heute noch lesen?«

Celia legte die Papiere und Bücher zurück in den Koffer, stand auf und sagte: »In einer Bibliothek.«

4

Den Rest des Vormittages verbrachte Celia an der Nähmaschine. Captain Florence Booth hatte den Gönner, der am Vortag den fußbetriebenen Strohhutbinder gespendet hatte, um etwas Material zur Herstellung von Strohhüten gebeten und war kurz darauf mit einem Sack voll gespaltener Strohhalme und einigen Drahtgeflechten zurückgekehrt. Auf Bitten des Captains zeigte Celia den anderen Frauen, wie man den Kettenstich, den sie gestern bereits an gewöhnlichem Stoff demonstriert hatte, bei der Hutherstellung anwendete. Strohhüte wurden direkt über den Passformen aus Draht genäht, wobei man am Rand begann und sich ringsum der Mitte näherte.

Celia war froh, eine Beschäftigung zu haben, mit der sie sich für einige Zeit von ihren Grübeleien ablenken konnte. Denn wenn sie zu lange den eigenen Gedanken nachhing, sah sie plötzlich in Seenot geratene und bis auf die Knochen abgemagerte Männer vor sich, die das Blut eines Kabinenjungen tranken und seine Eingeweide aßen. Sie fragte sich, wie sie selbst handeln würde, wenn sie in eine solche Notsituation geriete. Und die Antwort darauf machte ihr Angst.

Es war für sie eine Herausforderung, die geübten Handgriffe so zu erklären, dass es auch für Anfängerinnen verständlich war. Manchmal ertappte sie sich dabei, dass sie ungeduldig wurde, weil eine der Frauen eine vermeintliche Selbstverständlichkeit nicht auf Anhieb begriff oder einen einfachen Handgriff nicht sofort wiederholen konnte. Aber nach einer Weile war sie so von ihrem Tun gefangen, dass sie kaum bemerkte, wie die Zeit verflog. Erst als Captain Florence ihr auf die Schulter tippte und sie fragte, ob sie nicht auch zu Mittag essen wolle, wurde Celia bewusst, dass sie stundenlang genäht und inzwischen unzählige Strohhüte hergestellt hatte, sodass sich der Vorrat an Strohschnitt langsam dem Ende zuneigte.

Auf dem Weg zur Küche berichtete Captain Florence, dass der Bruder, der gestern bereits nach ihr gefragt hatte, am Morgen erneut vorgesprochen und sich nach Celia erkundigt habe. Dabei schaute ihr die Heilsarmistin seltsam forschend ins Gesicht und setzte, da Celia lediglich mit einem Kopfnicken antwortete, hinzu: »Wenn dir Bruder Adam zu forsch oder aufdringlich ist, kannst du das ruhigen Gewissens sagen. Dies ist ein Asyl für Frauen, und alle Brüder der Heilsarmee werden das unter allen Umständen respektieren.« Wieder fasste sie sich in ihrer etwas aufgesetzten Art ans Herz und fügte hinzu: »Dieses Heim ist tatsächlich eine Burg. Eine Trutzburg des Herrn! ›Der Herr ist mein Schutz‹, sagt die Schrift, ›mein Gott ist der Fels meiner Zuflucht.‹«

»Adam ist nicht aufdringlich, er will nur helfen«, antwortete Celia lächelnd. »Und ich bin ihm sehr dankbar dafür.«

»Das ist schön.« Florence Booth presste die Lippen aufeinander, nickte dann bedächtig und sagte: »Bruder Adam hat sehr unter dem Verlust seiner Frau und seines Kindes gelitten. Es hat ihm beinahe den Verstand geraubt.«