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»Ich weiß«, sagte Celia, der es irgendwie unpassend erschien, ausgerechnet mit der von Adam so geschätzten Florence über ihn zu sprechen. »Er hat es mir erzählt.«

»Tatsächlich?«, wunderte sich Captain Booth.

»Ja«, antwortete Celia, die nun ihrerseits stutzte. »Seine Frau ist bei der Geburt des Sohnes gestorben, und er hat sich dem Alkohol hingegeben. Adam macht daraus kein Geheimnis. Ganz im Gegenteil.«

»Der Schmerz und die Schuld sind manchmal überwältigend und können den Menschen überfordern«, sagte der Captain geheimnisvoll.

Celia erinnerte sich, dass auch Adam von Schuld und Selbstvorwürfen gesprochen hatte. Als fühlte er sich selbst für den Tod seiner Familie verantwortlich. Doch so ganz wollte ihr das nicht einleuchten.

»Das alles hat tiefe Wunden bei Adam hinterlassen«, fuhr Florence Booth fort. »Und Narben, die immer wieder aufbrechen können.«

»Er scheint seinen Frieden gefunden zu haben und hat dem Alkohol entsagt«, erwiderte Celia, als müsste sie Adam gegen irgendetwas verteidigen. »Auch dank der Brüder und Schwestern der Heilsarmee. Das hat er gestern bei der Versammlung sehr anschaulich und anrührend beschrieben.«

»Ich weiß, und dafür danke ich Gott«, sagte Florence und lächelte wieder ihr maskenhaftes Lächeln. »Ich wollte nur, dass du weißt, dass du hier sicher bist. Wir werden nicht noch einmal zulassen, dass uns eine Schutzbefohlene abhandenkommt. Die Armee des Heils wird dir beistehen.«

»Danke«, sagte Celia, begriff aber nicht, was der Captain damit sagen wollte. Auf welche Weise sollte sie denn »abhandenkommen«? Und wieso »noch einmal zulassen«?

»Bruder Adam will am Nachmittag erneut vorbeischauen«, beeilte sich Florence Booth hinzuzusetzen. »Auf dem Rückweg nach Limehouse.«

»Limehouse?«, wollte Celia wissen. »Was ist da?«

»Das Wohnheim für Männer«, antwortete Florence. »Er arbeitet dort in der Essensausgabe.« Bevor sie sich von Celia verabschiedete, fragte sie wie beiläufig: »Wirst du heute Abend zum Gottesdienst kommen? Wir versammeln uns nach dem Abendessen im großen Saal.«

»Mal sehen«, antwortete Celia ausweichend.

»Es ist immer sehr besinnlich und nicht so trist und deprimierend, wie du es vielleicht aus anderen Kirchen kennst«, sagte der Captain mit strahlendem Gesicht. »Wir machen Musik, singen unsere Lieder und danken dem Herrn im Himmel, dass er uns beisteht und rettet. Wir werden auch für die Generalin beten.«

»Welche Generalin?«

»Meine liebe Schwiegermutter«, erklärte Captain Booth und fasste sich abermals an die Brust. »Catherine Booth, die Frau des Generals, aber wir nennen sie nur die Mutter der Armee. Eine wundervolle und tapfere Frau. Sie hat Krebs und ist unheilbar krank. Wir wissen es seit einigen Monaten.«

»Das tut mir leid«, sagte Celia.

»Das muss es nicht«, erwiderte Florence und lächelte, als wäre dies tatsächlich eine frohe Nachricht. »Sie wird bald zur Herrlichkeit befördert und im Himmel über uns wachen. Und dafür wollen wir Gott danken. Ich hoffe, du wirst dabei sein.«

Celia nickte unverbindlich und setzte sich an den Tisch. Sie hatte Angst, ihr Schweigen könnte unhöflich oder undankbar wirken, doch im nächsten Moment hatte sich Florence Booth bereits abgewandt und verschwand leise vor sich hin summend aus dem Raum.

Während Celia ihren Sauerkohl aß und die Frauen neben ihr laut schmatzend Klatsch und Tratsch austauschten, wurde ihr erneut bewusst, wie fremd und verloren sie sich im Augenblick fühlte. Das lag nicht allein daran, dass sie niemanden kannte und die meisten der Frauen viel älter waren als sie, sondern es hatte auch damit zu tun, dass ihr eigener Blick auf die Welt und die Menschen sich so grundsätzlich von dem der Heilsarmee unterschied. Natürlich glaubte auch Celia an Gott und hoffte, dass sie einst im Himmel für die Mühsal auf Erden belohnt würde, doch die Soldaten der Heilsarmee schienen sich regelrecht darauf zu freuen, bald sterben zu dürfen. Das hatte sie bemerkt, als Adam Bedford von seiner toten Frau Emma und seinem Sohn James gesprochen und sich für sie gefreut hatte, als hätten sie ihm etwas unvergleichlich Schönes voraus. Und das hatte sie erneut gespürt, als Captain Booth von ihrer sterbenden Schwiegermutter erzählt hatte, als würde sie die Generalin um ihr Schicksal beneiden.

Celia fand den Tod einfach nur schrecklich, ungerecht und gemein. Sie hatte ihre Mutter viel zu früh und qualvoll sterben sehen, und sie konnte dem nichts Erbauliches oder Tröstendes abgewinnen. Zwar hoffte sie, dass ihre Mutter nun Frieden hatte und im Himmel war, aber niemals wäre sie auf die Idee gekommen, ihr Sterben als »Beförderung zur Herrlichkeit« zu bezeichnen.

Die Heilsarmisten waren keineswegs dumm oder naiv. Sie ignorierten und übersahen das Böse, Hässliche und Verwerfliche nicht. Im Gegenteil, sie kämpften sogar mutig dagegen an und versuchten, es zu ändern. Doch ihre Fixierung auf das Jenseits und die Rettung durch den Tod konnte Celia nicht teilen. Sie wollte gern glauben, dass sie allein durch den Glauben an Gott gerettet würde, wie Eva Booth es gestern vor dem Ten Bells Pub mit Leidenschaft verkündet hatte, aber es war ihr unmöglich, aus der Tatsache des Todes irgendeine Art von Trost zu schöpfen. Und ein Grund zur Freude war er schon gar nicht. Jedenfalls nicht hier auf Erden.

5

Adam Bedford erschien um vier Uhr am Nachmittag und ließ über Schwester Esther ausrichten, er warte mit seinem Fuhrwerk auf der Straße und falls Celia Lust habe, könne sie ihn auf dem Weg nach Limehouse begleiten und beim Einsammeln der Essensspenden behilflich sein. Es wäre ihm eine Freude, Celia durch die Stadt zu kutschieren, wie Esther abfällig schnaubend hinzufügte, wobei sie die Augen verdrehte. »Sei auf der Hut!«, gab sie Celia mit auf den Weg, als diese aus der Haustür trat.

»Vor Bruder Adam?«, fragte Celia und erinnerte sich an die seltsamen Andeutungen, die Captain Booth am Mittag gemacht hatte.

»Vor den Männern«, antwortete Esther mit finsterer Miene und schloss die Tür.

Celia freute sich, Adam wiederzusehen, auch weil sie am gestrigen Abend während des Tumults so plötzlich und ohne Verabschiedung getrennt worden waren. Doch als sie ihn vor dem Haus auf seinem Einspänner entdeckte, stieß sie vor Schreck einen Schrei aus. Adams linke Gesichtshälfte war blutunterlaufen und so angeschwollen, dass sein Auge kaum auszumachen war. Als er zaghaft lächelte und dabei die Lippen öffnete, erkannte Celia, dass man ihm einen der oberen Schneidezähne ausgeschlagen hatte. Auch fehlten an seiner Uniform einige Knöpfe, und der rechte Ärmel war an der Schulternaht aufgerissen.

»Oh mein Gott«, rief sie, als sie von Adam auf den Kutschbock gezogen wurde.

»Halb so schlimm«, sagte er, doch es klang nuschelnd, weil er den Mund nicht richtig öffnen konnte und seine Zahnlücke zischelnde Geräusche verursachte. »Es tut kaum noch weh. Und die Uniform lasse ich nähen.« Er betrachtete Celia eingehend und fragte: »Dir ist hoffentlich nichts passiert?«

Sie schüttelte den Kopf und deutete zur offenen Ladefläche, auf der einige Säcke, Kisten, Bottiche und Korbflaschen verstaut waren. »Sind das alles Spenden?«, fragte sie und wich Adams forschendem Blick aus. Sie war froh, rechts von ihm zu sitzen und nicht ständig auf seine verunstaltete linke Gesichtshälfte schauen zu müssen.

»Die Leute geben gern, wenn sie wissen, wo die milden Gaben hingehen«, antwortete er nickend und schlug mit den Zügeln auf die Kruppe des Pferdes. »Und bei der Heilsarmee können sie sicher sein, dass die Spenden bei den Bedürftigen ankommen. Wir sind schließlich die Armee der Armen und Benachteiligten. Uns kann man vertrauen.«

Celia nickte und lächelte gezwungen. Sie war immer etwas irritiert, wenn Adam so sprach, als müsste er sich rechtfertigen oder Werbung in eigener Sache machen.