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»Ich muss noch nach Southwark, um Essen einzusammeln«, sagte Adam, während er mitten auf der engen Straße wendete und dabei einen Stau in beide Richtungen verursachte. »Eines der Gasthäuser im Borough spendet die Überreste des Mittagessens, wenn wir die Kübel rechtzeitig abholen und die leeren Gefäße am Abend zurückbringen. Auf dem Weg dorthin kann ich dir ein bisschen was von der Stadt zeigen.« Mit Stolz in der Stimme fügte er hinzu: »Wir fahren nämlich durch die City von London.«

Celia verschwieg, dass sie diesen Weg bereits vorgestern nach ihrer Ankunft am Bahnhof Waterloo zu Fuß gegangen war, und sagte: »Das wäre sehr schön.«

Der Wagen fuhr am Markt von Spitalfields entlang in westlicher Richtung und bog dann linker Hand in eine mehrspurige Hauptstraße ein, auf der es von Kutschen, Lastwagen, Handkarren und Straßenbahnen nur so wimmelte. Gleich gegenüber befand sich der Bahnhof Liverpool Street, und als sie auf der rechten Seite den Bahnhofsvorplatz passierten, der so geschäftig wie ein Ameisenhaufen und so lärmend wie ein Wasserfall war, sagte Adam mit einem schiefen Grinsen in seinem angeschwollenen Gesicht: »Genau hier hat früher mal ein berühmtes Irrenhaus gestanden. Kommt mir manchmal so vor, als wären die Geister der Irren einfach an Ort und Stelle geblieben.«

Während sie auf der abschüssigen Bishopsgate Street nach Süden fuhren und sich dem riesigen Monument und der London Bridge näherten, erklärte Adam mit unverkennbarem Stolz, welche Sehenswürdigkeiten und Denkmäler am Wegesrand oder in Sichtweite standen und was er über ihre Bedeutung und Geschichte wusste. Doch Celia hörte nur mit halbem Ohr auf das, was Adam über das Große Feuer von London oder die älteste Brücke der Stadt zu berichten hatte. Sie kannte das meiste aus den Erzählungen ihrer Mutter, die ganze Abende damit verbracht hatte, die Hauptstadt des Königreichs zu beschreiben. Als sie auf der London Bridge im dichten Verkehr feststeckten und kaum noch vorwärtskamen, fragte Celia: »Zu welchem Gasthaus fahren wir eigentlich?«

»Zum George Inn«, antwortete Adam etwas pikiert, weil er gerade angesetzt hatte, über die östlich gelegene Baustelle der Tower Bridge und die eigenwillige Konstruktion dieser Klappbrücke zu berichten.

»Meine Mutter hat dort gearbeitet!«, rief Celia überrascht.

»Im George Inn? Das ist ja interessant«, sagte Adam, während er einen Händler umkurvte, der mitten auf der Brücke Obst von seinem Handkarren verkaufte. »Das George ist eines der ältesten Gasthäuser in Southwark. Wusstest du …?«

Jenseits der Brücke löste sich die Verkehrsstockung langsam auf. Während Adam den Wagen auf der Südseite der Themse unter einer Eisenbahnbrücke hindurchkutschierte und dabei von alten Postkutschenstationen und noch älteren Theateraufführungen in Hinterhöfen erzählte, wunderte sich Celia, dass ihr der Gedanke an die Schänke solch ein Unbehagen bereitete. Statt sich darauf zu freuen, den Ort zu sehen, an dem ihre Mutter vor ihrer Ehe als Dienstmagd gearbeitet hatte, fürchtete sie sich regelrecht davor und konnte sich diese Furcht zugleich nicht erklären. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie so wenig über das George Inn wusste.

Während ihre Mutter mit Eifer und Ausdauer von London, seinen prächtigen Bauten und dem atemberaubenden Trubel auf den Straßen und Plätzen berichtet hatte, war sie im Hinblick auf den Ort, an dem sie jahrelang gewohnt und gearbeitet hatte, immer sehr wortkarg geblieben. Celia glaubte alles über die Londoner Kirchen, die monumentalen Bahnhöfe, die großen Parks und die königlichen Paläste zu wissen, doch das George Inn erschien ihr wie ein Buch mit sieben Siegeln.

Sie konnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, wann ihre Mutter dort gearbeitet hatte. Irgendwann in den sechziger Jahren, denn im Jahr 1868 hatte sie Ned Brooks in Brightlingsea geheiratet. Celia hatte aus den wenigen Andeutungen der Mutter herausgehört, dass der Wirt des George Inn, ein Mann namens Rodney Webster, kein besonders netter Mensch gewesen war, doch warum es Mary Tremain, wie sie damals noch hieß, von London ausgerechnet nach Brightlingsea verschlagen hatte, darüber hatte die Mutter nie gesprochen. London war in ihrem Herzen geblieben. Southwark allerdings schien darin keinen Platz zu haben. Und das George Inn hatte sie anscheinend aus ihren Erinnerungen getilgt.

»So, da wären wir«, sagte Adam und deutete auf einen schmalen Durchlass zwischen zwei Häusern, über dem an einem eisernen Bogen die verrosteten Lettern »The George« angebracht waren. Von der Straße aus war das eigentliche Gasthaus gar nicht zu sehen. Erst als Adam den Pferdewagen durch die Einfahrt in den Hof lenkte, begriff Celia, was er vorhin mit den Postkutschenstationen gemeint hatte. Das George Inn hatte einstmals als Verpflegungsstation und Unterkunft gedient, für Mensch und Tier. Das Anwesen war in U-Form um den Hof herumgebaut, wobei auf der linken Seite die Pferdeställe und Stellplätze untergebracht waren und auf der rechten Seite die Schänke und die Herberge für die Reisenden. Am Kopfende des Hofes befanden sich der Schweinestall, ein Hühnerstall und die Zimmer für das Gesinde. Während die ehemaligen Remisen und Wagenschuppen nicht mehr benutzt wurden und zusehends verfielen, waren die Schänke und das Gasthaus noch leidlich intakt. Celia fielen die offenen Galerien vor den Gästezimmern im vorderen Teil des Hauses auf, die vom Hof aus betrachtet tatsächlich an Theaterränge erinnerten. Diese mit Geländern versehenen Laufgänge waren über die Jahrhunderte an einigen Stellen verbogen oder abgesackt, wodurch die Galerien beinahe eine Wellenform hatten.

Adam sprang vom Wagen und half Celia hinunter, die am liebsten auf dem Kutschbock sitzen geblieben wäre, aber nicht kindisch oder verstockt wirken wollte. Daher folgte sie Adam zu einer niedrigen Holztür im hinteren Gebäudeteil, über der ein Metallschild mit dem Bildnis des heiligen Georg angebracht war. Es zeigte den Märtyrer mit erhobenem blutigen Schwert und dem getöteten Drachen zu seinen Füßen.

»Du kommst spät, Kumpel«, wurde Adam von einem jungen Mann begrüßt, der in diesem Moment aus der Tür trat, doch augenblicklich wie unter einem Peitschenschlag zusammenfuhr. »Ach du meine Güte!«, rief er und verzog sein Gesicht zu einer Leidensmiene. »Bist du unter einen Tramwagen geraten?«

»Nein, zwischen die Skeletons«, antwortete Adam säuerlich und reichte dem anderen die Hand. »Sie haben uns angegriffen.«

»Und du hast natürlich wieder deine Wange hingehalten«, erwiderte der Mann halb scherzhaft, während er gleichzeitig dem Heilsarmisten mitfühlend die Hand auf die Schulter legte. Er deutete auf Adams Zahnlücke und fügte grinsend hinzu: »Ich hoffe, du hast es ihnen wenigstens Zahn um Zahn heimgezahlt.«

»Das Wort Gottes ist schärfer als jedes zweischneidige Schwert«, antwortete Adam mit ernster Miene.

»Aber offensichtlich eignet es sich nicht so gut für den schlichten Faustkampf«, entgegnete der andere lachend und wandte sich dann an Celia, die sich regelrecht hinter Adam versteckt hatte. »Und wer ist diese hübsche Miss, wenn ich fragen darf?«

»Das ist Celia Brooks«, antwortete Adam, fasste Celia an der Schulter und schob sie sachte nach vorne. »Celia, das ist Rod Webster, der Wirt des George, ein alter Freund.«

»Na, so alt nun auch wieder nicht«, widersprach der Angesprochene lachend und verneigte sich wie ein Schauspieler auf der Theaterbühne. »Allerdings kenne ich den guten Adam noch aus der Zeit, als er kein Abstinenzler und einer unserer besten Kunden war. Freut mich sehr, Ma’am.«

»Rodney Webster?«, war alles, was Celia herausbrachte.

»So hieß mein Vater«, antwortete der Wirt und hob verwundert die Augenbrauen. »Er ist vor zwei Jahren gestorben. Ich hab zwar den gleichen Vornamen, bevorzuge aber die Kurzform. Klingt nicht so hochtrabend. Wieso fragst du? Kanntest du meinen Vater?«

»Ihre Mutter hat hier im George gearbeitet«, sprang Adam ein, weil Celia keinen Ton herausbrachte und den jungen Mann anstarrte, als wäre er eine Schlange und sie das sprichwörtliche Kaninchen.