»Tatsächlich?«, fragte Webster und hakte seine Daumen in die Ärmelausschnitte seiner Weste. »Wann war das?«
Celia zuckte mit den Schultern und stammelte: »Früher.«
Webster schüttelte belustigt den Kopf. »So, so, früher«, äffte er Celia nach, wandte sich plötzlich um und hielt ihnen die Tür zur Schänke auf. »Na, dann kommt rein. Ihr seid spät dran. Ich wollte die Reste schon den Schweinen geben.«
Celia ärgerte sich über sich selbst und ihr unsicheres Auftreten. Doch sie konnte nicht anders, dieser Rod Webster schüchterte sie ein. Dabei war er nicht gerade das, was man einen beeindruckenden oder gar Furcht einflößenden Mann nennen konnte. Er war alles andere als hübsch und auch nicht besonders kräftig oder groß, ein dürrer Kerl mit fusseligem Backenbart und großen Ohren, die annähernd rechtwinklig vom Kopf abstanden. Seine Bewegungen wirkten ein wenig linkisch, und mit seinem Strubbelkopf und der fleckigen Kleidung, die an den Ellbogen und Knien abgewetzt war, erinnerte er fast an einen harmlosen Lausejungen. Dennoch strahlte der junge Mann, der kaum älter als zwei-oder dreiundzwanzig Jahre sein konnte, etwas Durchtriebenes oder Hinterhältiges aus, das Celia sofort auf Abstand gehen ließ. Er wirkte wie ein listiger Schelm, wenn man es vorteilhaft ausdrücken wollte, oder wie ein gemeiner Strolch, wenn man die Sache etwas drastischer beim Namen nennen wollte.
»Passt auf eure Köpfe auf!«, sagte Webster und deutete zu den schwarz angelaufenen Stützbalken an der Decke, die tatsächlich sehr niedrig hingen und den düsteren Schankraum, den sie nun betraten, in unregelmäßigen Abständen durchzogen. Nur wenige Gäste saßen an den Tischen, die von unterschiedlichster Form und Größe waren und den Eindruck bestärkten, den Celia von dem Gasthaus hatte. Das George Inn mochte traditionsreich sein und eine sehr lange Geschichte besitzen, im Moment wirkte es vor allem ein wenig verwahrlost und zurechtgezimmert. Die kleinen Butzenscheiben in den Fenstern zum Hof waren von unterschiedlicher Farbe und Beschaffenheit, was aber erst auf den zweiten Blick zu sehen war, weil man sie seit Ewigkeiten nicht geputzt hatte. Auch im Inneren der Schänke dominierte die Flickschusterei. Manches in dem Raum war vermutlich so alt wie das Haus selbst, doch vieles war in den Jahrhunderten ausgetauscht oder ausgebessert worden, ohne immer darauf zu achten, ob die Reparatur oder der Ersatz zum ursprünglichen Zustand passten. Das George Inn hatte seinen Besitzern offenbar niemals große Reichtümer beschert, dachte Celia bei sich, als sie sich neugierig umblickte.
»Die Suppe steht in der Küche«, wandte sich Webster an Adam und wies zu einer Schwingtür am hinteren Ende des Schankraums. »Kennst dich ja aus.«
Einige böse oder belustigte Kommentare der Kneipengäste begleiteten Adam auf dem Weg zur Küche. Doch er lächelte nur, tippte sich an die Mütze und rief ihnen zu: »Gott sei mit euch, Brüder!«
Celia wollte Adam folgen, doch Webster stellte sich ihr in den Weg und fragte: »Wieso so ängstlich? Ich beiße nicht.«
Sagte die Katze zur Maus, dachte Celia und wich einen Schritt zurück.
Webster kramte eine angerauchte Pfeife aus der Seitentasche seiner Weste, entzündete sie an einer Kerze und fragte: »Wie heißt deine Mutter? Vielleicht kenne ich sie ja.«
»Sie ist tot«, antwortete Celia und schaute Hilfe suchend zur Küchentür.
»Das tut mir leid«, behauptete Webster, ohne dass sich jedoch das Schelmengrinsen in seinem Gesicht veränderte. »Und wie hieß sie?«
»Mary«, sagte Celia. »Mary Tremain.«
»Mary heißen viele«, sagte Webster achselzuckend und paffte an seiner Pfeife.
»Der Topf auf dem Ofen?«, fragte Adam aus der Küche.
»Genau der«, antwortete Webster, ohne den Blick von Celia abzuwenden oder den Weg freizugeben. Er fasste sie mit Daumen und Zeigefinger am Kinn und meinte: »Du kommst mir irgendwie bekannt vor. Warst du schon mal hier?«
»Bin das erste Mal und erst seit Kurzem in London.«
»Ich könnte schwören, dass ich dich von irgendwoher kenne.«
Celia schüttelte heftig den Kopf, auch um Websters nach Tabak stinkende Finger von ihrem Kinn abzuschütteln.
»Sonst noch was?«, kam Adams Stimme aus dem Nachbarraum.
»Da ist noch Porridge auf der Anrichte neben dem Herd«, rief Webster, während seine Finger von Celias Kinn zur Schulter wanderten und dort wie beiläufig mit ihren Haaren spielten.
»Kommst du mal, Celia?«, bat Adam. »Allein schaff ich es nicht.«
Celia straffte sich erleichtert, schlüpfte an Webster vorbei und lief zur Küchentür, vor der sie um ein Haar mit Adam zusammenprallte, der in diesem Augenblick mit einem großen Emailletopf durch die Schwingtür trat.
»Nimmst du bitte das Porridge?«, fragte Adam, der Mühe hatte, die Balance zu halten. Er schaute überrascht und auch ein wenig misstrauisch zwischen Celia und Webster hin und her und wies dann mit einer Kopfbewegung in die Küche, aus der ein säuerlicher und wenig appetitlicher Geruch in den Schankraum drang.
Celia schnappte sich die Schüssel mit Haferbrei und beeilte sich, Adam durch den Schankraum nach draußen zu folgen. Wieder begleiteten ihn die höhnischen Kommentare der Gäste. Ein Schankmädchen zwinkerte ihm zu und rief: »Na, das nenn ich mal ’nen richtigen Soldaten. In welchem Krieg hast du denn gekämpft?«
Webster erwartete Adam und Celia bereits am Ausgang und hielt ihnen erneut die Tür auf.
»Danke, Rod«, sagte Adam und ging hinaus.
»Gern geschehen«, erwiderte Webster und ließ es sich nicht nehmen, Celia beim Hinausgehen mit der Hand über den Nacken und den Rücken zu streichen. »Bis bald, hübsche Celia!«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Am liebsten hätte sie ihm den Haferbrei ins Gesicht geschüttet, doch stattdessen ging sie schnurstracks und stocksteif zum Pferdewagen und verstaute das Porridge auf der Ladefläche. Dann stieg sie auf den Kutschbock und starrte angestrengt auf ihre Füße. Auf keinen Fall wollte sie Rod Webster anschauen, der immer noch in der Tür stand und darauf zu warten schien, dass sich ihre Blicke begegneten. Es kam Celia wie ein seltsames Spiel vor, wie ein kindisches Kräftemessen. Und das würde sie unter keinen Umständen verlieren!
»Ist was mit dir?«, fragte Adam neben ihr. Seine Frage hatte einen seltsamen Unterton und klang nicht so freundlich, wie er sonst mit Celia sprach.
»Lass uns fahren!«, bat sie, ohne den Blick zu heben. »Mir ist nicht wohl.«
»Aha!« Es klang nicht sehr mitfühlend.
»Natürlich! Wie dumm von mir!«, entfuhr es Webster in diesem Augenblick. »Jetzt hab ich’s!« Er wedelte mit den Armen und rief: »Halt! Wartet noch!«
Adam, der bereits den Wagen gewendet hatte, hielt inne und fragte: »Was hast du, Rod? Wo willst du hin?«
Doch Webster war bereits im Haus verschwunden. Nur wenige Sekunden später erschien er wieder im Hof, schwenkte irgendetwas mit der Hand und rief triumphierend: »Hab ich doch gewusst, dass ich dein Gesicht kenne!« Er lief zum Wagen, reichte Celia ein gerahmtes Bild und fragte: »Ist das deine Mutter?«
Celia schaute erschrocken auf, nahm das Bild, und als sie es betrachtete, stockte ihr der Atem und raste ihr Herz. Bei dem Bild handelte es sich um ein vergilbtes fotografisches Porträt. Es zeigte eine sehr junge Frau im weißen Kleid, mit einer ebenfalls weißen Haube auf dem Kopf und einem Sonnenschirm in der Hand. Das Bild war in einem Studio aufgenommen, wie man an dem bemalten Leinwandhintergrund und dem unnatürlich schattenlosen Lichteinfall erkennen konnte. Die Fotografie war auf einen rot geränderten Karton geklebt, es handelte sich um eine sogenannte Kabinettkarte, war also sehr viel größer als die handtellergroßen Visitenkartenfotos, die man in Alben sammelte. Was Celia aber vor allem verblüffte, war das Gesicht der Frau. Es war beinahe so, als schaute Celia in einen Spiegel. Die höchstens zwanzigjährige Frau auf dem Foto hätte ihre Zwillingsschwester sein können.