»Ist das Mary Tremain?«, fragte Webster und legte wie beiläufig seine Hand auf Celias Knie. »Sie sieht dir zum Verwechseln ähnlich.«
»Woher hast du das Bild?«, antwortete Celia mit einer Gegenfrage und rückte auf dem Kutschbock näher an Adam heran.
»Es hing seit ewigen Zeiten im Treppenhaus vor den Gastzimmern«, antwortete er und war sichtlich stolz, einen solchen Eindruck mit seiner Entdeckung gemacht zu haben. »Ich hab mich immer gefragt, wer wohl das hübsche Mädchen auf dem Foto ist. Dachte immer, es wäre irgendeine entfernte Verwandte. Vater habe ich mal danach gefragt, aber der hat nur wie üblich unverständlich rumgegrummelt. Und Mutter ist schon lange tot, die konnte ich also nicht fragen. Jetzt endlich weiß ich es. Es ist Mary Tremain, die hübsche Mutter einer noch hübscheren Tochter.«
Celia achtete nicht auf das Süßholzraspeln des Wirts, sondern starrte unverwandt auf die Fotografie. Was sie geradezu schockierte, war der frappierende Unterschied zwischen diesem Porträt und dem Familienfoto, das vor einigen Jahren in Brightlingsea aufgenommen worden war. Nicht einmal zwanzig Jahre lagen zwischen den beiden Bildern, doch es kam Celia so vor, als wären zwei völlig verschiedene Frauen darauf abgebildet. Die hübsche und keck dreinschauende Mary Tremain in ihrem weißen Sonntagskleid hatte nichts gemein mit der verhärmten Mary Brooks, die ihre drei halbwüchsigen Kinder wie Orgelpfeifen vor sich aufgestellt hatte. Nie wäre Celia auf die Idee gekommen, dass sie ihrer Mutter äußerlich ähnelte und quasi ein exaktes Abbild darstellte, und im gleichen Moment begriff sie, was die Ehe mit Ned Brooks, das Großziehen der Kinder und das harte Leben an der Küste von Essex aus Mary gemacht hatten. Ihre Mutter war gerade einmal zweiundvierzig Jahre alt geworden, doch sie war im Körper einer Greisin gestorben.
»Willst du’s haben?«, fragte Webster.
»Das Foto?«, staunte Celia. »Du schenkst es mir?«
»Den Rahmen behalte ich«, antwortete er und griente. »Da kommt ein anderes Bild rein, sonst sieht man den hellen Fleck an der Wand. Aber das Foto deiner Mutter darfst du behalten. Mit besten Grüßen von Rod Webster.«
»Danke«, murmelte Celia, ohne ihn dabei anzuschauen, und öffnete den Rahmen. Als sie die Kabinettkarte herauszog, sah sie auf der Rückseite des Kartons einen verschnörkelten Firmenstempel mit der Inschrift: »Fotografiert von C. T. Newcombe, 135 Fenchurch St.«.
»Welche Stellung hatte deine Mutter im Gasthof?«, fragte Webster, als er den Holzrahmen in Empfang nahm und dabei mit dem Finger ganz unauffällig über Celias Handrücken strich. »Als was hat sie gearbeitet?«
»Sie war Dienstmagd oder Schankmädchen, soviel ich weiß«, antwortete Celia und zuckte unter der Berührung zusammen. »Wieso willst du das wissen?«
Webster schüttelte ungläubig den Kopf und entgegnete: »Warum sollte mein Vater das Foto einer Dienstmagd im Sonntagsstaat ins Treppenhaus hängen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Celia. »Vielleicht aus Dankbarkeit?«
»Wir müssen los«, ging Adam mürrisch dazwischen.
»Dankbarkeit?« Webster lachte laut und trat beiseite, als Adam das Pferd mit einem Zügelschlag antrieb. »Mein Vater war nicht gerade für seine Dankbarkeit oder gar Herzensgüte bekannt«, rief er ihnen nach. »Wäre mir jedenfalls neu.«
»Bis morgen, Rod!«, rief Adam knurrig und ließ die Zügel knallen.
»Bis bald, hübsche Celia«, antwortete Webster. Diesmal flüsterte er nicht.
»Ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte Celia in Gedanken versunken und beinahe flehentlich, als sie in die Hauptstraße von Southwark einbogen. Erneut starrte sie auf das Porträt ihrer Mutter, die den Fotografen und damit den Betrachter herausfordernd, ja beinahe neckisch anschaute. Schnell verstaute sie das Foto in der Innentasche ihres Mantels.
6
Während der Wagen den Weg zur Themse zurückfuhr, die Eisenbahnbrücke unterquerte und sich vor der London Bridge in den Stau einreihte, starrte Adam missmutig und unverwandt nach vorne und brachte keinen Ton über seine Lippen. Das war vor allem bemerkenswert deshalb, weil er auf dem Hinweg nach Southwark unentwegt geplaudert hatte und sichtlich darüber erfreut gewesen war, Celia neben sich zu wissen. Nun aber gingen seine Mundwinkel nach unten, sein Kiefer mahlte unentwegt, und er starrte wie behext auf die schweißnasse Kruppe des Pferdes, die er immer wieder mit den Zügeln traktierte, obwohl das arme Tier wahrlich nichts dafür konnte, dass sie auf der Brücke feststeckten.
Celia, die anfangs ihren eigenen Gedanken nachgehangen und deshalb kaum etwas um sie herum wahrgenommen hatte, wunderte sich nach einer Weile über Adams seltsame Stimmung und sein griesgrämiges Gesicht. Als der Wagen die Brücke passiert hatte und von der Bishopsgate Street rechter Hand in die Fenchurch Street einbog, fragte sie ihren Begleiter: »Hast du schlechte Laune?«
»Warum sollte ich?«, war seine knappe Antwort.
»Hab ich dir irgendetwas getan?«, hakte Celia nach und versuchte, seinen Blick zu erhaschen. »Oder etwas Dummes gesagt?«
»Wenn du das selbst nicht weißt«, knurrte er, ohne sie dabei anzuschauen.
Celia begriff nicht, was in ihn gefahren war oder womit sie ihn womöglich verärgert hatte, doch in diesem Augenblick wurde ihre Aufmerksamkeit durch eine Hausnummer auf der linken Seite abgelenkt: 135 Fenchurch Street!
Dies war die Adresse des Fotografen, der das Kabinettporträt ihrer Mutter aufgenommen hatte. Tatsächlich hing an der Fassade des dreistöckigen Backsteinhauses ein emailliertes Metallschild. Ein altertümlicher Fotoapparat mit dreibeinigem Stativ war darauf zu erkennen.
»Könntest du kurz anhalten?«, bat sie Adam.
»Wir sind spät dran«, maulte er und ließ das Pferd in unvermindertem Tempo weitergehen. »Wir wollen die Hungrigen und Bedürftigen nicht unnötig warten lassen.«
»Bitte, nur einen kurzen Moment«, sagte Celia, »ich möchte gern etwas nachschauen. Es dauert auch nicht lange.«
Doch Adam tat so, als hätte er nichts gehört, und schaute stur geradeaus, wo die Fenchurch Street am gleichnamigen Bahnhof vorbeiführte und in die Aldgate High Street überging.
Celia blickte über ihre Schulter zurück. Das Haus mit der Nr. 135 war ein Eckhaus, und der Eingang zu dem Fotostudio befand sich in der Querstraße. Über einem winzigen Schaufenster sah Celia einen Schriftzug: »A. & G. Taylor«. Und darunter stand in schnörkeligen Buchstaben: »Fotografen Ihrer Majestät der Königin«. Ein C. T. Newcombe wurde nicht genannt. Jedenfalls nicht in so großen Buchstaben, dass Celia es aus der Entfernung hätte entziffern können. Dann war das Haus aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Adams Laune besserte sich in der Folgezeit nicht, auch seine Redseligkeit kehrte keineswegs zurück. Er blieb stumm wie ein Fisch und mürrisch wie ein Maulesel. Celia versuchte einige Male, irgendein Gespräch anzufangen – über das Wohnheim in Limehouse, über die Arbeit in der Essensausgabe, über den gestrigen Fackelzug und die Rede von Eva Booth, schließlich sogar über das kalte und regnerische Wetter in London –, doch außer knappen und nichtigen Kommentaren war Adam nichts zu entlocken. Celia beschloss, nicht weiter in ihn zu dringen und ebenfalls den Mund zu halten. Was auch immer ihn verärgert hatte, sie würde seine Verdrossenheit mit Missachtung strafen. Was blieb ihr anderes übrig?
Sie hatten Aldgate längst hinter sich gelassen und näherten sich nun den Docks und Hafenanlagen von Wapping und Limehouse. Es wimmelte in dieser Gegend von Fabriken mit riesigen Schloten, großen Lagerhallen und fensterlosen Speichern sowie unzähligen Hafenbecken, Kaimauern, Schleusen und kleineren Kanälen, die nach Süden hin mit der Themse verbunden waren. Eine Eisenbahnlinie fuhr parallel zur Durchgangsstraße auf einem gemauerten Damm. Außerdem fielen Celia die vielen stählernen Gasbehälter auf, die an überdimensionierte Blasebälge erinnerten und die Straßenlaternen Londons mit Gas versorgten.