Die Docks unterschieden sich merklich von den Wohngebieten im nahe gelegenen Whitechapel oder Spitalfields. Sie wirkten auf Celia wie eine Stadt in der Stadt. Die Häuser erschienen ihr größer, unförmiger und dunkler, die Straßen viel breiter, aber auch trostlos und armselig. Statt der Iren und Juden, die im nördlichen East End das Stadtbild prägten, waren es in Limehouse die Chinesen, die Opium rauchend oder Reiswein trinkend vor ihren Schänken saßen oder Trockenfisch von Handkarren verkauften. Überall sah man chinesische Tierornamente und Schriftzeichen, die auf Suppenküchen und Teehäuser hinwiesen, wie unschwer an dem süßlich würzigen Geruch zu erkennen war.
»Ganz schön viele Chinesen«, sprach Celia aus, was offensichtlich war.
»Chinatown«, knurrte Adam einsilbig.
»Hm«, machte Celia. Wieder war ein Gesprächsversuch ins Leere gelaufen.
Inzwischen stand die Sonne, die ohnehin die meiste Zeit hinter dichten Regenwolken verborgen war, nur noch eine Handbreit über der westlichen Silhouette der Stadt, über der Themse war bereits die blasse Scheibe des Vollmonds am Himmel zu sehen. Celias Magen knurrte, vor allem wenn sie an die Speisen dachte, die sie auf der Ladefläche transportierten. Deshalb fragte sie: »Ist es noch weit?«
»Willst wohl wieder zurück zu ihm«, entfuhr es Adam, als hätte er seit Beginn der Fahrt nur auf diese Gelegenheit gewartet. Er schnaufte abfällig und setzte hinzu: »Hätte ich mir ja denken können. Kannst es ruhig zugeben.«
»Zurück zu wem?«, fragte Celia.
»Zu Rod natürlich.«
»Rod Webster?« Celia war zunächst zu verblüfft, um zu reagieren, doch dann konnte sie nicht anders und musste schallend lachen. »Ist das dein Ernst? Wie kommst du darauf?«
»Brauchst gar nicht so zu tun!«, blaffte Adam sie an. Es schien so, als habe sich etwas in seinem Inneren angestaut, das nun mit Macht aus ihm herausbrach. »Es war ja nicht zu übersehen, wie du dich ihm an den Hals geworfen hast.«
»An den Hals geworfen?« Celia verschlug es beinahe die Sprache. »Wie kannst du so etwas behaupten? Was ist denn bloß in dich gefahren?«
»Ich hab ja Augen im Kopf«, antwortete er und schaute sie zum ersten Mal während der ganzen Fahrt an. Was Celia in seinem Blick wahrnahm, machte ihr Angst. Sie erinnerte sich an Adams funkelnde Augen, kurz bevor er sich am gestrigen Abend in das Scharmützel mit den Skeletons gestürzt hatte. Auch jetzt schien er, im wahrsten Sinn der Worte, außer sich zu sein.
»Wovon redest du überhaupt?«, erwiderte Celia und rutschte an den Rand des Kutschbocks. »Ich versteh dich nicht.«
»Glaubst du, ich merke so was nicht? Hältst du mich für dumm, oder was?« Adam zog eine Grimasse, die in seinem verunstalteten Gesicht ebenso furchterregend wie grotesk aussah. »Hübsche Celia hier, hübsche Celia da! Und ständig das Getätschel! Ich musste mich ja schämen.«
»Dann schäm dich für deinen widerlichen Freund Rod!«, rief Celia erbost und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was kann ich dafür, dass er um mich herumscharwenzelt, seine stinkenden Finger nicht von mir lassen kann und mir Honig um den Mund schmiert? Ich hab ihn gewiss nicht dazu aufgefordert.«
»Von nichts kommt nichts«, fauchte Adam und lenkte den Wagen über eine Kanalbrücke, die rechter Hand von der Durchgangsstraße abbog und gleichzeitig unter der Eisenbahnlinie hindurchführte. Sie fuhren nun an einem riesigen Wasserbecken vorbei, auf dem große und kleinere Schiffe mit Kränen beladen wurden oder deren Fracht auf bereitstehende Barken umgeladen wurde.
»Das ist ja wohl die Höhe!«, entgegnete Celia entrüstet. »Jetzt soll ich auch noch dafür verantwortlich sein, dass dein Kumpel ein verdammter Schwerenöter ist. Was fällt dir ein, Adam Bedford!«
»Es scheint dir nicht missfallen zu haben«, entgegnete er trotzig.
Celia platzte nun endgültig der Kragen. »Und selbst wenn!«, fauchte sie und redete sich nun ihrerseits in Rage. »Selbst wenn ich mich deinem feinen Freund an den Hals geworfen hätte. Was geht das dich an? Was kümmert dich das?«
»Ich bin für dich verantwortlich.«
»Seit wann?«
»Seitdem ich versprochen habe, mich um dich zu kümmern.«
»Wenn du das Kümmern nennst, dann kann ich gerne darauf verzichten«, rief Celia und schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich bin doch kein kleines Kind mehr!«
»Ich habe es versprochen«, beharrte er. »Und ich erfülle meine Pflicht.«
»Ich bin dir dankbar für deine Hilfe, Adam, aber du bist nicht mein Herr und nicht mein Gebieter. Und wenn du glaubst, dass du irgendwelche Ansprüche auf mich hast, dann hast du dich geschnitten. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.«
»Doch, das bist du!«, rief Adam und hielt den Wagen an. »Und wenn nicht mir, dann doch dem Herrgott im Himmel.«
»Lass den Herrgott aus dem Spiel! Der hat damit gar nichts zu tun.«
Hinter ihnen staute sich der Verkehr. Da die Kutscher der anderen Fuhrwerke an der schmalen Stelle nicht überholen konnten, stießen sie wilde Flüche aus.
»Ich möchte dich doch nur vor dem Bösen bewahren«, beharrte Adam und wiegte den Kopf hin und her, als verstünde er nicht, warum Celia sich so uneinsichtig gab. »Begreifst du das denn nicht? Es geht um deine unsterbliche Seele, Celia!«
»Zum Teufel mit meiner Seele!«, antwortete Celia, der inzwischen die Tränen über die Wangen liefen. »Das ist doch alles nur Gerede. Du bist eifersüchtig, darum geht’s! Und obendrein ohne jeden Grund.«
»Wird’s bald, da vorne? Macht mal voran! Oder seid ihr eingeschlafen?«, wurden erboste Stimmen laut. »Welcher Idiot bleibt denn da mitten auf der Straße stehen?«
»Nein, das stimmt nicht!«, rief Adam, und sein Blick nahm einen beinahe schmerzgeplagten Ausdruck an. »Ich bin nicht eifersüchtig.«
»Und ob du das bist«, schluchzte Celia, die überhaupt nicht begriff, wie es so weit hatte kommen können. »Krankhaft eifersüchtig sogar. Das ist doch nicht normal!«
»Nimm das sofort zurück!«, rief er, fuhr plötzlich herum und schlug ihr unversehens mit dem Handrücken ins Gesicht.
Der Schlag war so heftig und kam so unerwartet, dass Celia nach hinten kippte und seitlich vom Kutschbock fiel. Mit einem dumpfen Knall schlug sie auf dem Pflaster auf. Schnell rappelte sie sich wieder auf, musste sich aber auf die Lippen beißen, weil sie sich beim Sturz den Fußknöchel und das Handgelenk verletzt hatte. Ohne ihren Begleiter nur eines Blickes zu würdigen, lief sie in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.
»Celia! Komm zurück!«, rief Adam und wollte den Wagen wenden, was aber wegen des Staus nicht möglich war. »Es tut mir leid. Das wollte ich nicht. Vergib mir! Bitte! Lauf nicht weg!«
Celia humpelte, so schnell ihr schmerzender Knöchel es zuließ, bis zu der Kanalbrücke, die sie vorhin überquert hatten. Unter sich sah sie eine Schleuse, die zum Kanal hin geöffnet war, über ihr lag der Bahndamm, auf dem eine Lokomotive ratterte und fauchte und dunklen Dampf ausstieß. Zusätzlich kreuzten sich hier zwei Straßen, was das Ganze zu einem unübersichtlichen Wirrwarr machte. Am Rand der Straße, gleich hinter einem Pfeiler der Eisenbahnbrücke, ging eine schmale Steintreppe zum Kanal hinunter. Ein Treidelpfad führte an dem Kanal entlang, an dem ein alter Händler seinen vertäuten Frachtkahn belud. Das Treidelpferd war bereits angeschirrt und wartete geduldig darauf, den Kahn zu ziehen. Wie früher, als es noch keine Dampfboote gegeben hatte.
»Celia, bitte!«, hörte sie Adams Stimme von der Straße. Offenbar hatte er seinen Wagen stehen lassen und war ihr zu Fuß gefolgt. »Ich wollte dich nicht schlagen. Das tut mir fürchterlich leid. Das musst du mir glauben.«
Celia rannte die Treppe hinunter und schaute sich suchend um, doch am Kanal gab es weder ein Versteck noch einen Ausweg. Auf der einen Seite befand sich die Schleuse zum Wasserbecken, auf der anderen die doppelte Eisenbahn-und Kanalbrücke, und der einzige Zugang war die Treppe. Wenn Celia auf dem offenen Treidelpfad am Kanal entlanglief, würde Adam sie unweigerlich sehen. Sie war in eine Sackgasse geraten.