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»Jetzt sei doch nicht so!«, rief Adam über ihr. »Es kommt nicht wieder vor. Das bin ich nicht. Nicht mehr. Ich hab mich geändert. Du kannst alle fragen. Verzeih mir, Celia! Wo steckst du denn? Komm doch raus!«

Der Mann mit dem Kahn, der sein Boot inzwischen beladen hatte, rieb sich die Hände und nickte ihr zu. Celia erwiderte den Gruß nicht. Ihr liefen die Tränen über die Wangen, vor Schmerz und Wut, aber noch mehr aus Enttäuschung. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Käme Adam jetzt die Treppe herunter, würde er sie unweigerlich entdecken und sie mit ihm weiterfahren müssen. Auch wenn ihr der Gedanke daran zuwider war.

Wieder nickte der alte Treidler, und diesmal deutete er mit der Hand zu der schmalen Planke, die vom Ufer aus zu seinem Frachtkahn führte. Er lächelte aufmunternd und nickte abermals.

Jetzt erst begriff Celia. Sie lief zu dem Kahn, raffte ihre Kleider und betrat vorsichtig die Planke.

»Duck dich!«, sagte der Mann, als Celia die Ladefläche erreicht hatte. Und ehe sie sich versah, hatte er einen großen Leinensack über sie geworfen. Das Tuch roch angenehm nach Kaffeebohnen.

Nur wenige Augenblicke später hörte sie Adams dumpfe Stimme: »Guter Mann, haben Sie hier ein Mädchen gesehen?«

»Nay«, antwortete der Treidler.

»Ungefähr so groß, mit einem schlichten braunen Kleid.«

»Nay«, wiederholte der Mann.

»Sind Sie sicher?«

»Ay!«

Dann war Stille. Eine Weile passierte gar nichts, Celia hörte nur das Gluckern des Wassers unterm Kiel und am Kanalufer und dann und wann das Schnaufen des Pferdes und das Klirren des Zuggeschirrs. Die Geräusche waren so einlullend und Celia war so erschöpft und müde, dass sie beinahe eingeschlafen wäre. Die Worte ihrer Mutter fielen ihr wieder ein: »London laugt einen aus«. Mittlerweile konnte sie noch besser nachempfinden, was ihre Mutter damit gemeint hatte.

Ja, Celia fühlte sich ausgelaugt und wie ausgewrungen. Als wäre sie zur Ader gelassen worden. Am liebsten hätte sie sich auf ewig unter dieser Sackleinwand versteckt, mit dem Geruch nach Kaffeebohnen in der Nase und dem Plätschern des Wassers in den Ohren. Wie am Hafen von Brightlingsea, wenn die großen Segelschiffe gelöscht wurden und die Kinder auf den Kaimauern herumtollten und mit den Überbleibseln der Ladung spielten. Zerrissene Säcke, gesprungene Tonkrüge und Flaschen, faulige Früchte oder zerriebene Kräuter, die zerbrochene Meerschaumpfeife eines alten Seebären …

»Aufwachen, Kind!«, weckte sie die Stimme des alten Mannes aus ihren Tagträumereien. »Die Luft ist rein.«

Celia fuhr zusammen und brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass sie nicht an der Küste von Essex, sondern immer noch im Londoner East End war.

»Er ist weg«, sagte der Mann und deutete nach oben.

»Danke«, antwortete sie und schüttelte sich. »Das war sehr nett von Ihnen.«

»Ach«, war alles, was der Alte darauf erwiderte. Und doch lächelte er, als wäre er ein wenig stolz auf sich.

»Was ist das eigentlich für ein Kanal?«

»Kennst dich nicht aus, was?«

Celia schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen, um nicht wieder weinen zu müssen. Ja, der Mann hatte recht. Sie kannte sich nicht aus!

»Das ist der Regent’s Canal«, sagte der Treidler und beschrieb einen großen Halbkreis mit der Hand. »Führt von hier aus über Mile End und Islington ganz um die Stadt rum bis nach Paddington.«

»Regent’s Canal?«, horchte Celia auf. »Könnten Sie mich bis zur Mile End Road mitnehmen?«

Als Antwort zuckte der Alte nur mit den Schultern, warf die Planke auf die Ladefläche, löste das Tau und gab dem Pferd einen Klaps auf den Hintern. Langsam setzte sich der Frachtkahn in Bewegung.

7

Der People’s Palace war genau so, wie Maureen und Heather ihn beschrieben hatten. Und das, obwohl sich die Beschreibungen der beiden Freundinnen so auffallend widersprochen hatten: Der Palast des Volkes war imposant und eine Baustelle. Auf der nördlichen Seite der Mile End Road und unweit des Kanals gelegen, erinnerte das zentrale Gebäude tatsächlich an die königlichen Paläste in Westminster, die Celia aus Zeitschriften und von Postkarten kannte. Dieser Teil des Palastes, den eine glänzende Metallplakette als »Queen’s Hall« auswies, war bereits fertiggestellt und machte auf Celia mit seinem frontalen Säulengang, seinen verschnörkelten Erkern, halbrunden Balkonen, geschwungenen Giebeln und Balustraden einen kolossalen Eindruck. Die Fassade war völlig symmetrisch gestaltet, links und rechts zwei quadratische Blöcke und in der Mitte das zweistöckige Portal unter dem in Stein gehauenen königlichen Wappen. Über dem Portal ragte eine mächtige Kuppel aus dem Gebäude, flankiert von zwei orientalisch anmutenden Zwiebeltürmen.

Doch um die »Halle der Königin« herum wimmelte es von eingerüsteten Nebengebäuden, ausgeschachteten Baugruben und kargen Rohbauten, denen das Dach und der Putz fehlten. Linker Hand befand sich ein großes Gebäude, dessen Dach und oberstes Stockwerk vollständig aus Glas zu sein schien, wie bei einem überdimensionierten Gewächshaus. Direkt an der Mile End Road stand ein großer, noch eingerüsteter Turm, dessen Zweck Celia vollkommen unklar war. Sie hatte keine Ahnung, ob er dereinst eine Glocke oder Uhr beherbergen sollte oder ob man eine Statue daraufstellen wollte.

Auf dem mit Kopfstein gepflasterten Vorplatz wimmelte es von Menschen, Pferden und Kutschen. Es gab Händler und Blumenmädchen, die ihre Waren auf Handkarren oder in Bauchläden präsentierten, Mietkutscher, die ihre Hansom Cabs an der von Gaslaternen gesäumten Auffahrt be-oder entluden, und natürlich unzählige Besucher, die sich vor den beiden beleuchteten Eingängen drängelten. Die Sonne war inzwischen untergegangen; Celia schätzte, dass es ungefähr acht Uhr war. Auf einem Plakat neben dem rechten Eingang las sie: »Messiah. Oratorium von Georg Friedrich Händel in drei Teilen«.

Es war auffällig, dass sich die Pulks vor den beiden Zugängen stark unterschieden. Die ordentlich aufgereihten, fast andächtig wirkenden Besucher vor dem rechten Zugang, der offensichtlich zum Konzertsaal führte, waren allesamt in Gala und Abendgarderobe gekleidet. Die Männer trugen einen Frack oder Cutaway mit Zylinder oder Bowler, die Frauen gebauschte, mit Spitzen, Drapierungen und Volants versehene Kleider, deren voluminöse Gesäßpolster fast bis zum Rücken reichten. Aus Modemagazinen, die Celia beim Friseur in Brightlingsea durchgeblättert hatte, wusste sie, dass man diese unförmigen Tournüren nach dem neuesten französischen Schick, die beim Sitzen eher hinderlich waren, »Cul de Paris« nannte. Der Friseur hatte ihr hinter vorgehaltener Hand und augenzwinkernd verraten, dass dies nichts anderes als »Pariser Hintern« bedeutete.

Vor dem linken Eingang ging es nicht ganz so gesittet zu, auch weil der Andrang vor der Tür um einiges größer war. Es wurde laut geschwatzt und gelacht. Hier trugen fast alle Besucher Straßenkleidung oder einfache Abendkleider: die Männer Sakkos oder altmodische Gehröcke mit Schiebermützen oder Strohhüten, die Frauen schlichte Kleider ohne unnötigen Firlefanz, von den üblichen Federn, Bordüren und Pelzbesätzen einmal abgesehen.

Damit sich die Pulks der Wartenden nicht vermischten oder in die Quere kamen, waren im Säulengang zwischen den Eingängen sowie auf der Freitreppe vor dem Portal hohe Eisenzäune errichtet. Das Gebäude nannte sich zwar Palast des Volkes, aber es war durchaus nicht unerheblich, aus welchem Teil des Volkes die Besucher stammten. Eine »schnieke Bude für feine Pinkel« hatte Heather den People’s Palace genannt. Doch auch wenn sie damit nicht unrecht hatte, war es doch nur die halbe Wahrheit gewesen. Das einfache Volk wurde nicht ausgeschlossen, es hatte lediglich seinen eigenen Bereich im Palast. Und seinen eigenen Eingang.