Neben der linken Tür hing ein Plakat, auf dem gleich mehrere Programmangebote in verschiedenen Veranstaltungsräumen angekündigt wurden. Ganz oben las Celia etwas von einer Taubenschau, darunter von einem Singspiel mit Klavierbegleitung, irgendwo stach ihr das Wort »Varieté« ins Auge, worunter sie sich jedoch nichts vorstellen konnte.
Neben dem Eingang verkaufte ein Bäcker frisches Gebäck, das köstlich duftete und Celias Magen laut knurren ließ. Sie hatte seit dem Mittag nichts gegessen und leistete sich für einen Penny zwei warme Scones mit Streichrahm. Gleichzeitig dachte sie daran, dass sie im Asyl in der Hanbury Street nichts für ihr Abendbrot hätte zahlen müssen, und ärgerte sich über die unnötige Geldverschwendung. Doch die Scones schmeckten wundervoll, und die Vorstellung, in wenigen Augenblicken einen richtigen Palast zu betreten, erschien ihr sehr viel verlockender als die Aussicht auf einen Gottesdienst der Heilsarmee. Und sei er noch so munter und erbaulich.
Als Celia das Gebäude durch den linken Eingang betreten wollte, wurde sie von einem Mann in dunkler Uniform angehalten. Für einen Moment glaubte sie, Adam stünde vor ihr, deshalb zuckte sie vor Schreck kurz zurück, doch es war nur ein livrierter Bediensteter des People’s Palace, der dafür zuständig war, die Besucher in die gewünschten Richtungen zu lenken. Während die Gäste des Konzertsaals vom Eingang aus direkt zum hell erleuchteten Foyer gingen, wie Celia durch eine farbige Glastür sehen konnte, befand sich hinter dem linken Eingang ein Gewirr von Gängen und Treppen, die zu den zahlreichen Nebenschauplätzen dieses Kulturpalastes führten. Dass es vor allem der Dienstmann war, der für das Gedränge vor dem Gebäude sorgte, schien ihm nicht klar oder wichtig zu sein.
»Wohin, Miss?«, fragte der Uniformierte.
»Ich möchte zur Bibliothek«, sagte Celia nach kurzem Überlegen. »Da, wo man die Zeitungen lesen kann. Also eigentlich alte Zeitungen, wenn’s die noch gibt.«
»Der Lesesaal ist seit zwei Stunden geschlossen«, antwortete er bedauernd und strich sich mit behandschuhten Fingern über den Backenbart. »Erst Montag wieder. Oder Sonntagnachmittag, wenn Sie Schülerin an der Technischen Schule sind.«
Celia schüttelte den Kopf, während sich die anderen Besucher ungeduldig an ihr vorbeizwängten und sich lautstark über die Verzögerung beschwerten.
»Tut mir leid, Miss.«
Celia nickte enttäuscht. Einen Augenblick lang wollte sie schon auf dem Fuß umkehren und wieder hinausgehen, was angesichts des Stroms der Hereindrängenden gar nicht so einfach gewesen wäre. Doch ebenso plötzlich änderte sie ihre Meinung. Wenn sie schon einmal hier war, so konnte sie sich den Palast auch anschauen. Schließlich kostete nur der Zutritt zu den Veranstaltungen etwas, das Betreten des Gebäudes selbst war frei. Celia erinnerte sich an das Plakat neben der Tür und fragte: »Was ist eigentlich ein Varieté?«
»Eine Art Music Hall«, antwortete der Uniformierte und lachte geziert. Seine Finger wanderten vom Backenbart zum Schnauzer, der an den Enden gezwirbelt war. »Auf Französisch klingt es ein wenig vornehmer.« Er deutete nach links und setzte hinzu: »Den Gang hinunter bis zur Treppe, dann ins zweite Obergeschoss.«
»Danke«, sagte Celia und ging in die gewiesene Richtung.
Überall an den dunkel vertäfelten und mit Statuetten und Gemälden geschmückten Wänden hingen hölzerne Hinweisschilder: »Schwimmbad, Sporthalle, Bibliothek, Lesesaal, Technische Schule, Lehrraum I – IV, Großer Hörsaal, Wintergarten, Kleine Bühne, Tanzsaal«. Doch einige der Namen waren durchgestrichen oder mit Datumsangaben kommentiert: »Eröffnung im Dezember 1888«, »nicht vor Anfang 1889«, »in Planung«, »im Bau«, »demnächst im zweiten Obergeschoss«, »in Kürze«.
Celia wusste gar nicht, wo sie hinschauen sollte. Überall gab es etwas zu bestaunen, die riesigen Ölgemälde an den Wänden über der Treppe, die elektrischen Kronleuchter an der Decke und die schweren Brokat-und Samtvorhänge in den seitlichen Durchgängen. Sogar der dunkelgrüne Teppich, über den sie lief, schien ihr weicher als jeder Teppich, den sie bislang betreten hatte.
Als sie das Ende der Treppe erreicht hatte und sich im Obergeschoss umschaute, sah sie mehrere Gruppen von Menschen, die wie gebannt vor einigen Glasfenstern standen. Der Blick durch die Fenster ging jedoch nicht nach draußen, sondern fiel auf einen hell erleuchteten Nachbarraum, der, dem allgemeinen Raunen und Staunen nach zu schließen, einen ganz besonderen Anblick bot. Celia gesellte sich zu einer der Gruppen, und als ein Platz an der Fensterscheibe frei wurde, drängelte sie sich nach vorne.
Was sie hinter dem Glas sah, ließ auch sie vor Überraschung aufseufzen. Zunächst glaubte sie, ein riesiges und prunkvolles Kirchenschiff zu erkennen, doch dann begriff sie, dass dies die Queen’s Hall war, der zentrale Veranstaltungssaal, um den der gesamte Volkspalast herumgebaut war. Die schmalen Sichtfenster befanden sich auf der Höhe einer steinernen Galerie, die den gesamten Saal im Obergeschoss umgab und mit zahlreichen Frauenstatuen verziert war. Celia zählte zwanzig dieser lebensgroßen Skulpturen, zehn auf jeder Seite des Saals. An den prachtvollen Gewändern und den gekrönten Häuptern erkannte Celia, dass dies die Statuen von Königinnen waren. Unter jeder Königin befand sich im Erdgeschoss eine weitere Frauenstatue, die luftiger gekleidet war, die Arme nach oben reckte und an eine römische Göttin erinnerte. Die Königinnen auf den Galerien wurden von den Skulpturen im Parterre gleichsam getragen oder gestützt.
Ein mit Intarsien und Reliefs geschmücktes Rundgewölbe überspannte die gesamte Halle. Es erinnerte Celia an eine Tonne, mit halbrunden Mauerbögen als Stützen. Am Ende der Halle, dort wo sich bei einer Kirche der Altar befand, stand eine riesige Orgel auf einer treppenartigen Bühne, deren Rückwand an eine Muschel erinnerte. Das Orchester hatte bereits auf den Treppen und der Plattform vor der Orgel Platz genommen, der Dirigent stand an seinem Pult, und auch das Publikum saß zum Großteil auf den Stühlen. Es befanden sich so viele Stuhlreihen im Parkett, dass Celia ihre Anzahl nicht auf Anhieb schätzen konnte. Bei dem Versuch, sie zu zählen, war sie gerade bei Reihe Nummer 18 angekommen, als sie hinter sich eine bekannte Stimme hörte.
»Wo hast du Heather gelassen?«
Celia fuhr herum und hätte Sheila, die Schlangenfrau, beinahe nicht erkannt. Gestern hatte sie sie nur im durchsichtigen Trikot und später in einer Art Pelerine oder Cape gesehen, das an einen orientalischen Morgenmantel erinnerte. Nun aber stand sie in schlichter, aber dennoch eleganter Abendgarderobe vor ihr, mit dezenter Tournüre und hochgeschlossenem Mieder. Schräg auf dem Kopf saß ein Strohhut mit bunten Samtbändern. Nichts erinnerte an die freizügig gekleidete Bühnendarstellerin. Oder an die Baumwollspinnerin aus Blackburn, die sie früher einmal gewesen war.
»Sheila!«, rief Celia erfreut und reichte ihr die Hand. »Schön, dich zu sehen. Ich hab keine Ahnung, wo Heather steckt. Ich war allein unterwegs, also nicht wirklich allein, aber eben ohne Heather. Na ja, das ist eine lange Geschichte. Und keine sehr schöne.« Celia war selbst überrascht über ihr plötzliches Geplapper, aber sie war so froh, unter all diesen Fremden Sheila zu begegnen, dass sie einfach und unbedacht drauflosredete. »Ich freu mich wirklich. So ein Zufall!«
»Mein Name ist Maureen«, verbesserte die andere lächelnd und schüttelte Celias Hand.
»Oh, ja, natürlich, weiß ich doch«, erwiderte Celia und schaute verlegen zu Boden. »Tut mir leid.«
»Schon gut«, sagte Maureen. »Ich komme mit meinen vielen Namen manchmal selbst durcheinander.«
»Hast du heute schon deinen ersten Auftritt?«, fragte Celia. »Ich dachte, es geht erst nächste Woche los.«
»Stimmt, ich trete erst am Montag auf. Ich wollte mir den Laden noch mal bei Hochbetrieb anschauen. Außerdem musste ich meinen Vertrag noch unterschreiben und einige Kleinigkeiten klären.«