Celia deutete mit der Hand durch die Fensterscheibe zur Orgelbühne, wo gerade ein seltsames Gequäke und Gerassel der Instrumente ertönte, und fragte: »Bist du schon nervös? Vor so vielen Leuten aufzutreten, das stelle ich mir fürchterlich aufregend vor. Auch wenn die Besucher in den letzten Reihen überhaupt nichts von dir sehen werden. Der Saal ist ja riesig.«
»Nun ja«, antwortete Maureen, räusperte sich und zog Celia von dem Fenster weg. »Das mit der Großen Bühne war anscheinend ein Missverständnis.«
»Wieso?«
»Komm mit!«, antwortete Maureen und deutete zum Ende des Ganges, wo eine schmalere und steilere Treppe zum zweiten Obergeschoss führte. Während sich die Queen’s Hall auf der rechten Seite des Ganges befand (mit schmalen Sichtfenstern am vorderen und hinteren Ende), gingen auf der linken Seite in regelmäßigen Abständen Türen oder kleinere Durchgänge ab, die zu den Veranstaltungsräumen oder weiteren Nebengebäuden führten. Hinter einem dieser Durchlässe befand sich der sogenannte Wintergarten. Es handelte sich um das Gebäude mit dem Glasdach, das Celia von außen gesehen hatte. Zwar war der Wintergarten noch nicht völlig fertig, wie an dem Baumaterial auf dem Boden zu erkennen war, dennoch wurde auf einer Holztafel auf eine dortige Ausstellung zeitgenössischer Kunst hingewiesen. »Eintritt frei«, wie in großen Lettern zu lesen war.
»Was heißt zeitgenössisch?«, wollte Celia von Maureen wissen.
»Von heute, glaube ich«, antwortete Maureen achselzuckend. »Deswegen ist der Eintritt auch frei. Gegen Bezahlung würde sich das neumodische Zeug kein Mensch angucken.« Sie lachte, führte Celia am Wintergarten vorbei zum Fuß der Treppe und fragte: »Weißt du, was ebenfalls von heute ist?« Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und gab selbst die Antwort: »Mein Kleid. Heute Morgen in der Brick Lane gekauft. Wie findest du es?«
»Wunderschön«, entfuhr es Celia, und damit meinte sie nicht nur das Kleid. »Es steht dir wunderbar.«
»Nun übertreib mal nicht«, antwortete Maureen kopfschüttelnd, gab Celia aber dennoch einen Kuss auf die Wange. »Du bist lieb, Kindchen.«
»Ich bin kein Kindchen.«
»Aber lieb bist du trotzdem«, erwiderte Maureen, zwinkerte ihr zu und betrat die Treppe zum zweiten Stock. »Komm schon!«
»Was meintest du vorhin mit ›Missverständnis‹?«, knüpfte Celia an Maureens Bemerkung an, während sie die Treppe hinaufging und dabei erleichtert feststellte, dass ihr verstauchter Knöchel kaum noch schmerzte. Als sie einen letzten Blick zurück ins erste Obergeschoss warf, zuckte sie plötzlich zusammen. Vor dem Eingang zum Wintergarten stand ein vollbärtiger Mann in schäbigem Anzug, der das Hinweisschild betrachtete, als hätte er Schwierigkeiten, die Buchstaben zu entziffern. Der Mann hielt einen Schlapphut in der Hand und kratzte sich die Glatze, im Nacken und über den Ohren standen ihm seine wenigen Haare wie gerupfte Federn ab, sein üppiger, bis auf die Brust fallender Bart wirkte verfilzt und zottelig. Obwohl der Mann sein Gesicht abgewandt hatte und im nächsten Augenblick im Durchgang zum Wintergarten verschwunden war, glaubte Celia den hässlichen Kerl mit den Raubvogelaugen erkannt zu haben, der sie gestern beim Fackelzug so durchdringend angeschaut hatte.
»Das mit der ›Großen Bühne‹ hab ich leider in den falschen Hals bekommen«, erklärte Maureen, die das Ende der Treppe erreicht hatte und auf zwei Türen an der Stirnwand wies, zwischen denen ein Holzschild mit der Aufschrift »Varieté« hing. An der linken Tür war eine Plakette mit der Aufschrift »Kleine Bühne« angebracht, auf der rechten Tür stand »Große Bühne«.
Celia hatte etwas Mühe, sich auf Maureen und ihr Gespräch zu konzentrieren. In Gedanken wanderte sie immer wieder die Treppe hinunter zu dem hässlichen Zottelbart, doch als sie die Schilder an den Türen sah, begriff sie und sagte: »Nicht ganz so groß wie die Bühne im Konzertsaal.«
»Kann man wohl sagen«, antwortete Maureen und verdrehte die Augen. »Gerade mal zweihundert Leute passen in den Saal. Was aber immer noch doppelt so viel ist wie im Raum nebenan.« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der Tür mit der Aufschrift »Kleine Bühne«.
»Glück im Unglück«, meinte Celia schmunzelnd. »Und die Bezahlung? War das auch ein Missverständnis?«
Maureen schüttelte den Kopf. »Zum Glück nicht. Allerdings muss ich für Kost und Logis selbst aufkommen. Sie haben mir zwar eine Wohnung in der Nähe besorgt, aber die Miete und Verköstigung wird mir von der Gage abgezogen. Da bleibt leider nicht mehr so viel übrig.«
In diesem Augenblick öffnete sich die rechte Tür, weil ein Besucher den Saal verließ, und Celia konnte einen Blick in den Raum werfen. Natürlich konnte sich die Große Bühne nicht mit der Queen’s Hall im Erdgeschoss messen, weder was die Größe noch was den Prunk betraf, aber wenn man den kleinen Saal mit dem schäbigen Hinterzimmer in der Curtain Tavern verglich, so stellte er doch eine deutliche Verbesserung dar. Auf der Bühne sah Celia einen Mann im Frack am Klavier, der alte Volksweisen zum Besten gab, begleitet von einer dicken Frau mit einer unfassbar hohen Stimme. Celia fragte sich unwillkürlich, ob die Frau versuchte, mit ihrem Gesang Glas zu zersplittern.
»Willst du hinein?«, fragte Maureen flüsternd. »Oder wieso bist du hier?«
Celia schüttelte heftig den Kopf. »Eigentlich wollte ich in die Bibliothek, aber die ist bereits geschlossen«, antwortete sie und schloss schnell die Tür. »Ich wollte in den alten Zeitungen blättern. Du weißt schon, wegen meinem Vater.«
»Oh ja, richtig«, sagte Maureen und tippte sich plötzlich an die Stirn. »Gut, dass du deinen Vater erwähnst. Beinahe hätte ich was vergessen. Luisa ist nämlich gestern noch etwas eingefallen. Wegen diesem Menschenfresser, von dem sie gesprochen hat.«
»Dem Kannibalen des Meeres?«, fragte Celia mit banger Stimme.
Maureen nickte und sagte: »Sie hat sich an den Namen des gesunkenen Schiffes erinnert. Irgendwas Französisches. Marionette oder Maisonette. Ich weiß es leider nicht mehr genau.«
»Mignonette?«, fragte Celia.
»Genau«, antwortete Maureen und ging zurück zur Treppe. »Komischer Name für ein Schiff, oder? Wahrscheinlich ein Fantasiename.«
Celia schüttelte unmerklich den Kopf, nahm allen Mut zusammen und fragte: »Gilt dein Angebot eigentlich noch?«
»Welches Angebot?«
»Du hast gestern gesagt, du brauchst eine Assistentin.«
»Hat Heather es sich etwa anders überlegt?«
»Gott bewahre!«, antwortete Celia und lachte erschrocken. »Lieber würde sie sterben, glaube ich. Nein, ich rede nicht von Heather.«
Maureen verstand nicht und schüttelte irritiert den Kopf.
»Vielleicht kann ich deine Assistentin sein?«, fragte Celia, und das Blut schoss ihr in den Kopf, dass ihr ganz heiß und mulmig wurde. Weil sie ahnte, was Maureen darauf antworten würde, setzte sie hastig hinzu: »Ich brauch auch nicht viel. Und ich bin eine gute Näherin. Kochen kann ich auch.«
Maureen zog die Augenbrauen zusammen, lächelte gequält und ging eilig die Treppe hinunter. Celia hatte den Eindruck, als wollte sie vor allem ihren Blick meiden. Am Fuß der Treppe wandte sich Maureen jedoch plötzlich um und sagte: »Nimm’s mir nicht übel, Kindchen, aber dieses Angebot … nun ja, es war nicht so ganz ernst gemeint.«
»Du wolltest Heather nur ärgern, nicht wahr?«
»Sie wollte mich ärgern«, antwortete Maureen bestimmt.
Celia nickte traurig und sagte: »Ihr wart mal gute Freundinnen.«
»Die besten«, meinte Maureen achselzuckend. »Ist aber lange her.«
»Schade.«
Maureen umarmte Celia, klopfte ihr etwas ungelenk auf den Rücken und sagte: »Sei nicht traurig, Kindchen.«
»Ich bin kein Kindchen.«
»Tut mir leid, Celia«, verbesserte sich Maureen und streichelte ihre Wange. »Kommst du noch mit? Ich treff mich mit den neuen Kollegen vom Palace in einem Pub am Kanal. Es ist gleich um die Ecke und nicht sehr teuer. Es wird bestimmt lustig. Und es könnte ja sein, dass von den Kollegen jemand deinen Vater kennt. Oder zu der damaligen Zeit für Tom Norman gearbeitet hat.«