Выбрать главу

Doch Celia schüttelte den Kopf und verabschiedete sich. Sie blieb am Fuß der Treppe stehen, während Maureen gemächlich in Richtung Ausgang ging. Einerseits war sie enttäuscht wegen der Abfuhr, obwohl sie sie eigentlich erwartet hatte, zum anderen stand ihr nicht der Sinn nach einer geselligen und lustigen Kneipenrunde. Nicht einmal die Erwähnung ihres Vaters konnte sie aus der Reserve locken. Celia wollte nur nach Hause, wo auch immer das sein mochte, sich in einer Ecke verkriechen und an nichts mehr denken. Sie wollte, dass dieser Tag endlich zu Ende ging, auch wenn sie nicht wusste, was der nächste für sie bringen würde. Wie so oft in den letzten Wochen fühlte sie sich fremd und fehl am Platz. Sie sehnte sich danach, irgendwo hinzugehören, ein Teil von etwas zu sein, doch stattdessen kam sie sich wie eine Außenseiterin vor, wie ein unerwünschter, allenfalls geduldeter Eindringling, ohne Aufgabe oder Ziel. Ein Zaungast. Und womöglich war die Suche nach dem Vater auch nur ein Ausdruck dieser Leere und Sinnlosigkeit. Sie lenkte lediglich davon ab, dass Celia keinen Fixpunkt im Leben hatte. Denn was wollte sie machen, wenn sie ihren Vater tatsächlich gefunden hätte? Wäre sie dann wirklich am Ziel? Würde sich dadurch irgendetwas ändern? Oder würde nur eine weitere Enttäuschung auf sie warten?

»Was genau meinst du eigentlich mit ›nicht viel‹?«, hörte sie plötzlich Maureen fragen. Die Schlangenfrau hatte sich bereits einige Schritte entfernt, war dann aber noch einmal umgekehrt.

Celia, noch völlig in Gedanken versunken, verstand nicht.

»Du hast gesagt, du brauchst nicht viel«, erklärte Maureen. »Was heißt das?«

»Einen Platz zum Schlafen«, antwortete Celia und bemühte sich, nicht allzu aufgeregt zu klingen. »Und etwas zu essen. Sonst nichts.«

»Ich kann dir nicht viel zahlen«, sagte Maureen, und sie wirkte, als ränge sie mit sich. »Nicht mehr als ein Taschengeld. Und als Dienstmädchen wärst du auch für die Wohnung und alles andere zuständig. Nicht dass du denkst, das wär ein Zuckerschlecken. Ich bin schließlich nicht die Heilsarmee.«

Celia nickte, schüttelte dann den Kopf und nickte erneut.

Maureen griff in ihre Handtasche, holte ein Foto heraus, schrieb mit Bleistift etwas auf die Rückseite und reichte es Celia. »Sei morgen gegen Mittag dort«, sagte sie streng. »Dann sehen wir weiter.«

Celias Herz schlug so heftig und laut, dass man es eigentlich hätte hören müssen. Am liebsten wäre sie Maureen um den Hals gefallen. Doch sie rührte sich nicht vom Fleck, brachte kein Wort heraus und war wie gebannt. Und obwohl sie sich so sehr freute, war es ihr nicht möglich zu lächeln. Sie schaute auf das Foto, das Maureen ihr gegeben hatte. Es handelte sich um ein Visitenkartenporträt von Sheila im Schlangenkostüm, die gerade ihr Rückgrat nach hinten verbog und mit den Füßen ihren Hinterkopf berührte. Auf die Rückseite hatte sie eine Adresse geschrieben: »16 White Horse Lane, bei Adams, zweiter Hinterhof«.

»Es ist in Stepney, nur ’n Katzensprung von hier.«

»Darf ich das Foto behalten?«, fragte Celia ungläubig.

»Klar«, antwortete Maureen und lachte amüsiert. »Brauch jetzt eh neue Bilder. Und einen neuen Namen.« Sie grüßte mit der Hand, wandte sich ab und ging.

Celia konnte ihr Glück kaum fassen. Sie wartete, bis Maureen außer Sichtweite war, schaute sich vorsichtig um, als wäre sie im Begriff, etwas Verbotenes zu tun, und drückte dann einen Kuss auf die Fotografie. Anschließend steckte sie das Bild in die Manteltasche, zu dem Foto ihrer Mutter.

8

Celia war noch niemals zuvor in einer Kunstausstellung gewesen. Zwar hatte sie schon häufig Gemälde oder Skulpturen betrachtet, doch diese hatten stets einem Zweck gedient oder eine Geschichte erzählt. Entweder waren es Darstellungen biblischer Themen gewesen, oder es hatte sich um Abbildungen irgendwelcher Seefahrer und Schiffsunglücke gehandelt. Die Bilder hatten eine klar erkennbare Aufgabe gehabt: Sie sollten die Kirchgänger an das Leben Jesu und der Heiligen und die Bewohner von Brightlingsea an verschollene Schiffer erinnern. Die Gemälde und Statuen jedoch, die im Wintergarten des People’s Palace ausgestellt waren, schienen Celia geheimnisvoll und unverständlich, weil ihr die erzählten Geschichten oder Figuren unbekannt waren. Viele Bilder hatten offenbar lediglich den Zweck, schön auszusehen oder auf andere Weise Gefühle hervorzurufen.

Auch die Art, wie die Gemälde gemalt waren, kam Celia seltsam unzugänglich vor. Die Porträts und Landschaftsbilder wirkten unnatürlich oder unecht, aber das auf eine beinahe vorsätzliche Weise. Gerade so, als hätten die Künstler gar nicht die Absicht gehabt, die Natur und die Menschen so abzubilden, wie sie tatsächlich waren. Sie wirkten zugleich überhöht und verzerrt, verklärt und missgestaltet. Und das wollte Celia nicht einleuchten, obwohl sie es gleichzeitig als beeindruckend und imponierend empfand.

Eigentlich hatte Celia den Wintergarten nur aufgesucht, um nach dem schäbig gekleideten Mann mit dem Raubvogelgesicht Ausschau zu halten. Doch kaum hatte sie den großen, von exotischen Grünpflanzen überwucherten Raum betreten, durch dessen gläserne Decke man den hoch am Himmel stehenden Mond sehen konnte, schon waren die Bilder und Skulpturen wie wilde Tiere hinter dem Grünzeug hervorgestürmt und hatten an ihr gezerrt und genagt, bis Celia der Kopf weh tat und die Gedanken schwirrten. Da gab es gleißende Landschaften, die nur aus zusammenhangslosen Pinselstrichen bestanden, aber dennoch den Eindruck der unterschiedlichen Gelände erstaunlich genau wiedergaben. Ähnlich war es bei den Porträts, die auf Celia fast grobschlächtig wirkten, jedenfalls ganz anders als die strengen und detailgetreuen Darstellungen, die sie aus dem Pfarrhaus von All Saints in Brightlingsea kannte. Auch Bilder vom Meer und von Flusslandschaften waren ausgestellt, aber sie hatten so wenig mit den heroischen Gemälden gemein, die Celia von zu Hause kannte, dass sie sich einfach nicht vorstellen konnte, wer solch ein Bild in Auftrag geben sollte. Doch vielleicht war genau dies das Geheimnis der Bilder: Sie waren in keinem Auftrag gemalt worden, sondern allein dem Wunsch und Verlangen des Malers entsprungen. Sie erfüllten keinen fremden Zweck, sie genügten sich selbst, und das war Celia unheimlich – und begeisterte sie zugleich.

In dem Gewimmel von Menschen, Pflanzen, Skulpturen und Gemälden hätte Celia den Mann mit dem zotteligen Vollbart beinahe gar nicht bemerkt. Er stand in einer hinteren Ecke des Raumes, regelrecht versteckt hinter einem palmenartigen Gewächs, dessen lange Wedel seltsame Schatten an die Wand warfen. Der Mann rührte sich nicht vom Fleck, hielt seinen speckigen Schlapphut andächtig vor der Brust und starrte wie verhext auf ein in dunklen Brauntönen gehaltenes Bildnis, das einen jungen Mann mit Flügeln zeigte.

Eigentlich hatte Celia vorgehabt, dem Fremden durch den Wintergarten zu folgen und ihn auch anschließend nicht aus den Augen zu lassen, um mehr über ihn herauszufinden, etwa, wo er wohnte. Was sie mit diesen Informationen anfangen wollte, wusste sie selbst noch nicht so genau, doch der Blick, mit dem der Mann sie gestern angeschaut hatte, ging ihr immer noch durch Mark und Bein, und sie wollte herausfinden, was es damit auf sich hatte. So lautete zumindest ihr etwas unausgegorener Plan.

Tatsächlich aber war es Celia überhaupt nicht möglich, dem Bärtigen durch den Wintergarten zu folgen, weil er sich kein bisschen von der Stelle bewegte. Wie angewurzelt schaute er auf dieses eine Gemälde und schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Es kümmerte ihn nicht, dass er anderen die Sicht nahm und diese ihren Unmut zum Teil laut zum Ausdruck brachten. Es scherte ihn auch nicht, dass manche Besucher eher den kauzigen Kerl als das Gemälde des halbnackten Flügelwesens beäugten. Er schien wie weggetreten.