»Geh doch mal weg da, Mädchen!«, sagte der Mann im Frack, der sich wichtigtuerisch nach vorne schob und Celia gleichzeitig zur Seite drängte. Er beugte sich zu dem Hutzelmann hinunter und sagte: »Sie waren mit ihm befreundet, nicht wahr?«
»Befreundet? Das wäre dann doch übertrieben«, trällerte der Kleine demonstrativ belustigt, doch seine Augen straften die zur Schau getragene Heiterkeit Lügen. »Unsere Wege haben sich gekreuzt, doch unglücklicherweise führte Mr. Solomons Pfad in die falsche Richtung. Er war ein großer Künstler, aber ein schwacher Mensch. Was das Ganze umso bedauerlicher macht.«
Von irgendwoher kam ein seltsames Knurren, doch als Celia sich umwandte, konnte sie nichts oder niemanden erkennen.
»Ist er denn schon tot?«, wunderte sich ein anderer Mann aus der Gruppe.
»Er mag noch leben«, antwortete der Kleine und wirkte nun regelrecht angewidert. »Aber für mich ist er vor vielen Jahren gestorben.«
»Sehr verständlich«, pflichtete ihm der Mann im Frack bei.
»Simeon Solomon«, sagte ein weiterer Mann aus der Gruppe, der bislang geschwiegen hatte, und lachte anzüglich. »Oder sollte man sagen: Sodomon.«
»Ich muss doch sehr bitten«, entfuhr es dem Kleinen. »Wir sollten keine Witze über jene machen, die ohnehin am Boden liegen. Das wäre schäbig und unwürdig.« Seltsamerweise lächelte er dennoch affektiert, zwinkerte dem Mann, der die Bemerkung gemacht hatte, verschwörerisch zu und gab anschließend dem Frackträger mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er genug von der »Liebe im Herbst« gesehen hatte und weitergeführt werden wollte.
Celia hatte das Gespräch der Männer mit einem seltsamen Unbehagen verfolgt und war geradezu erleichtert, als sich die Gruppe einem anderen Gemälde zuwandte und hinter dem nächsten Palmengewächs verschwand. Sie hatte zwar nicht genau verstanden, worüber sich die Männer unterhalten hatten, aber es hatte in ihren Ohren so aufgesetzt und falsch geklungen, dass sich ihr die Nackenhaare aufgestellt hatten. Das Gemälde selbst hatten die Männer gar nicht richtig in Augenschein genommen, sondern sich lediglich über dessen Maler mokiert.
»Das war Swinburne«, raunte ein rüstiger älterer Herr neben Celia einer ebenfalls älteren Dame zu, die zuvor etwas gelangweilt ausgesehen hatte, nun aber einen hellwachen Eindruck machte und der Männergruppe interessiert hinterherschaute. Ihre Miene wirkte mit einem Mal ebenso empört wie erregt.
»Der Swinburne?«, fragte sie und bog einen Palmwedel zur Seite, um besser sehen zu können. »Das kleine Kerlchen da? Sind Sie sicher?«
Der rüstige Herr nickte vielsagend.
»Na, so was«, antwortete die Frau und schnalzte undamenhaft mit der Zunge.
»Entschuldigung«, wandte sich Celia an den Mann. »Wer ist dieser Swinburne?«
»Algernon Swinburne«, erklärte der Mann mit feierlichem Ton. »Ein großer Dichter unserer Zeit. Jedenfalls war er das einmal. Inzwischen ist es ruhiger um ihn geworden.«
»Ein skandalöser Dichter«, verbesserte die Frau und räusperte sich, als wäre allein ihr Wissen darum ein Skandal.
»Nie von ihm gehört«, murmelte Celia.
»Das wundert mich nicht«, sagte der Mann und fuhr sich über den grauen Backenbart. »Seine Gedichte waren ein wenig freizügig und drastisch. Nichts für junge Backfische.«
»Freizügig?«, empörte sich die Frau und verdrehte die Augen. »Gotteslästerlich und obszön waren sie. Schmutzig und wider jede Natur.« Erneut räusperte sie sich und setzte eilig hinzu: »Das habe ich jedenfalls gehört.«
»Aber große Poesie«, beharrte der Mann. »Ein wenig derb und gewagt, das will ich gern zugeben, aber von hoher Kunst.« Mit diesem Kommentar und einem abschließenden Kopfnicken empfahl er sich und ging davon.
Die ältere Dame schnaufte abfällig, wandte sich nun ihrerseits an Celia und sagte hinter vorgehaltener Hand: »Von wegen ›gewagt‹. Sündhaft und abscheulich war das, wenn du mich fragst, sonst nichts!« Damit verschwand sie hinter der Palme, hielt Ausschau und folgte neugierig der kleinen Gruppe um den Skandaldichter.
Celia blieb an Ort und Stelle stehen und schaute auf das Gemälde. Der sehnsüchtige Blick des Jünglings mit den Flügeln ließ sie nicht los. Den gleichen Blick hatte sie im Gesicht des bärtigen Mannes gesehen. Bittere Tränen auf den verschmutzten Wangen. »Wie begnadet er war und wie tief er fiel«, hatte der Dichter Swinburne über den Maler Solomon gesagt. Der betrunkene Mann mit dem Bart hatte ihn mit einer Mischung aus Furcht und Zorn angeschaut. Wie ein getretener Hund, der sich nicht zu beißen traut. »Ich kannte deine Mutter nicht«, hatte er auf ihre Frage geantwortet. »Ich bin ihr nie begegnet.« Und trotzdem hatte er sie in Celia wiedererkannt. Fragte sich nur, wie so etwas möglich war.
Celia riss sich vom Anblick des Bildes los und verließ den Wintergarten durch den Hinterausgang. Der eisige Wind fegte über den Vorplatz und wirbelte Blätter und Papierfetzen auf. Es hatte angefangen zu regnen. Celia schlug den Kragen ihres Mantels hoch. Es war noch ein weiter Weg bis Spitalfields.
SONNTAG, 21. OKTOBER 1888
9
Irgendwann hatte Celia einmal gehört, der Schlaf sei der Zwillingsbruder des Todes. Vermutlich hatte ihre Mutter das gesagt, sie hatte solche Sinnsprüche geliebt. Oder der alte Pfarrer von All Saints hatte es in einer seiner langatmigen Predigten erwähnt. Als Celia am Morgen in ihrem Sargbett in der Hanbury Street aufwachte, glaubte sie jedenfalls zu wissen, was damit gemeint war. Selten hatte sie so fest und traumlos geschlafen wie in der vergangenen Nacht, was umso erstaunlicher war, da der vorherige Tag derart aufregend und verstörend für sie gewesen war. Als sie gegen Mitternacht unter die dünne Bettdecke geschlüpft war, hatte ihr der Kopf geschwirrt, die Gedanken waren wie Flöhe darin herumgehüpft. Celia hatte sich darauf gefasst gemacht, in der Nacht von Alpträumen und Nachtmahren heimgesucht zu werden, doch das Gegenteil war der Fall gewesen. Sie war auf der Stelle eingeschlafen, war wie in eine Ohnmacht gefallen und erst weit nach Sonnenaufgang aufgewacht, ohne die geringste Erinnerung an böse Träume oder schweißnasses Hochschrecken aus dem Schlaf. Celia fühlte sich erstaunlich frisch und erholt, gerade so, als wären die Ereignisse des gestrigen Tages wie weggeblasen. Als hätte es sie nie gegeben.
Heathers Bett an der Wand war leer gewesen, als Celia den Schlafraum betreten hatte. Auch jetzt war das Bettzeug in dem Kasten nebenan noch immer unberührt. Nachdem sich Celia im Waschraum gewaschen und mit dem letzten Zahnpulver die Zähne gesäubert hatte, besah sie ihr Gesicht im Spiegel. Adams Schlag hatte glücklicherweise keine sichtbaren Spuren hinterlassen, weder eine Schwellung noch ein blaues Auge. Auch der verstauchte Knöchel schmerzte kaum noch.
Als sie in die Küche kam, wurde sie von den Frauen, die bereits beim Frühstück saßen, mit seltsamen Blicken begrüßt. Einige tuschelten, andere grinsten anzüglich, doch alle schauten beiseite, wenn Celia ihren Blicken begegnete. Auch die alte Esther hatte gestern Nacht seltsam dreingeschaut, als Celia gegen elf Uhr vor der Tür des Frauenasyls erschienen war. Auf Celias Frage, ob etwas passiert sei, hatte Esther lediglich mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Geh schlafen! Morgen ist auch noch ein Tag.«
Der Haferbrei schmeckte fade, der Tee war lauwarm und bitter, und keiner redete ein Wort mit ihr. Immer wieder war ein leises Munkeln oder unterdrücktes Kichern zu hören. Celia kam sich vor, als hätte sie etwas verbrochen, ohne sich jedoch einer Schuld oder Verfehlung bewusst zu sein. Die anwesenden Heilsarmistinnen waren ihr unbekannt, weder Esther noch Captain Florence waren zugegen. Also würgte sie das klumpige Porridge hinunter, spülte mit dem Tee nach und beeilte sich, den Essraum wieder zu verlassen. Wie gut, dass sie bereits eine neue Unterkunft hatte. Im Frauenasyl schien sie aus unerfindlichen Gründen in Ungnade gefallen zu sein. Es konnte doch unmöglich daran liegen, dass sie gestern Abend dem Gottesdienst zu Ehren der Generalin ferngeblieben war. Oder bildete sie sich das alles nur ein?