Am nächsten Morgen wurde Celia durch ein Rütteln und Klopfen an der Tür geweckt. Kurz vor Sonnenaufgang waren ihr die Augen vor Erschöpfung zugefallen, und als sie jetzt das abermalige Pochen an der Tür hörte, fuhr sie in die Höhe und stieß sich dabei den Kopf an der Dachschräge. Die Sonne schien bereits durchs Dachfenster.
»Brauchst dich nicht länger zu verbarrikadieren«, meldete sich eine Frauenstimme von draußen. »Kannst rauskommen, Kleines. Dir passiert nichts.«
»Was soll ihr auch passieren?«, hörte Celia die Stimme von Mr. Egerton.
»Du bist still, Syd!«, befahl die Frau. Celia vermutete, dass »die Missis« etwas früher als geplant aus Lyndhurst zurückgekommen und womöglich nicht sehr erbaut von dem weiblichen Besuch in der Dachkammer war.
»Keine Bange, kleine Miss Brooks, ich beiße nicht«, sagte Mrs. Egerton. »Und meinen Mann halte ich an der Kandare.«
»Danke, Ma’am«, antwortete Celia und stieg aus dem Bett, um sich anzukleiden.
»Wir sind unten«, sagte Mrs. Egerton und lachte, ohne dass es besonders erfreut geklungen hätte. »Komm frühstücken. Ich hab was für dich.«
Als Celia nur wenige Minuten später im Schankraum erschien, lächelte der Wirt sie freundlich an, als wäre gar nichts vorgefallen. »Hast du gut geschlafen?«, fragte er und wies auf einen Tisch neben dem Eingang, auf dem ein Teller mit Bohnen, Speck und Rührei für sie bereitstand. »Hast Angst gehabt, was? Kein Wunder, bei dem Sturm letzte Nacht. Das ganze Haus hat gewackelt, dass man dachte, es würde einem an der Tür gerüttelt. Da kann man’s schon mal mit der Angst zu tun bekommen und sich verkriechen.«
»Red nicht!«, wurde Mr. Egerton durch seine Frau unterbrochen, die mit einem gefüllten Tablett aus der Küche kam. »Und lass das Mädchen in Ruhe!«
»Man wird ja wohl noch fragen dürfen, wie die Nacht war«, maulte der Wirt, zog sich aber schleunigst hinter den Schanktisch zurück, als Mrs. Egerton ihn mit einem bösen Blick bedachte. Sie versorgte die Gäste, die zu dieser frühen Stunde bereits zahlreich anwesend waren, mit Ei, Brot und Porridge und setzte sich anschließend zu Celia an den Tisch.
»Iss das, und dann verschwinde!«, sagte sie leise und deutete auf den Teller. Sie war eine große, grobe und stämmige Frau mit bleicher Hautfarbe, die von riesigen Sommersprossen übersät war. Obwohl sie sich durchaus hilfsbereit gab, war ihr Blick finster und ausgesprochen unfreundlich.
»Ich habe nichts Unrechtes getan«, verteidigte sich Celia.
»Darum geht es nicht«, sagte die Wirtsfrau. »Verschwinde einfach!«
»Sie könnte doch als Dienstmädchen bei uns arbeiten«, schlug Mr. Egerton vor, während er Dünnbier einschenkte und auf den Tresen stellte.
»Willst du das?«, wandte sich die Missis mit hochgezogenen Augenbrauen an Celia. »Wärst du gern unser Dienstmädchen?«
Celia schüttelte den Kopf.
»Gut«, sagte die Frau und erhob sich. »Und jetzt iss!«
»Ma’am?«
»Ja?«
»Warum nennt man meinen Vater einen Judas?«
»Warum?« Mrs. Egerton dachte eine Weile nach, dann hob sie die Achseln und meinte: »Das ist eine Frage, die nur dein unseliger Vater beantworten kann.«
»Aber wo steckt er?«
Die Wirtin tauschte einen Blick mit ihrem Mann, der hinter dem Schanktisch stand und heftig den Kopf schüttelte. Schließlich griff sie in die Tasche ihrer Schürze und zog eine Postkarte hervor, die sie vor Celia auf den Tisch legte. »Ich hab ja gesagt, dass ich noch was für dich habe«, flüsterte die Wirtin.
»Was soll das, Weib?«, rief Mr. Egerton erbost. »Du weißt, dass sie ihn dort nicht finden wird. Der verdammte Kerl kann sonst wo stecken.«
»Und wenn schon«, antwortete seine Frau. »Antworten gibt’s nicht umsonst. Wenn das Mädchen ihn finden will, dann soll sie ihn gefälligst suchen. Geht uns nichts an. Und dich schon gar nicht, Sydney!«
Celia betrachtete die Ansichtskarte, und als sie die Londoner Adresse auf der Rückseite las, ahnte sie, dass Mrs. Egerton ihr die Postkarte nicht aus Hilfsbereitschaft gegeben hatte, sondern um sie aus dem Weg zu haben. Was Celia letztendlich egal sein konnte. Sie nickte und sagte artig: »Danke, Ma’am.«
»Brauchst gar nicht so zu tun!« Mrs. Egerton funkelte sie an und schnaufte verächtlich, dann beugte sie sich vor und flüsterte Celia ins Ohr: »Du bist eine von denen, die verheirateten Männern den Kopf verdrehen. Die alles durcheinanderbringen, mit ihren großen Augen und dem niedlichen Gesicht. So eine bist du.«
»Ma’am?«, fragte Celia verständnislos.
»Du hast gehört, was ich gesagt habe!« Damit wandte sie sich ab und verschwand in der Küche.
Während Celia völlig verwirrt und mit rotem Kopf auf die Karte in ihrer Hand starrte, hörte sie Mr. Egerton sagen: »Du wirst es bereuen und womöglich teuer bezahlen.«
»Antworten gibt’s nicht umsonst«, murmelte sie in Gedanken versunken.
»Tu, was du nicht lassen kannst!«, antwortete Mr. Egerton achselzuckend.
Statt auf die mahnenden Worte des Wirtes zu hören oder wenigstens in aller Ruhe nachzudenken, was nun zu tun sei, war Celia direkt nach dem Frühstück zum Bahnhof geeilt und hatte einen Fahrschein dritter Klasse nach London gekauft. Wie sie inzwischen wusste, hatte sie das Ticket lediglich von einer Sackgasse in die nächste geführt. Mit dem nicht unwesentlichen Unterschied, dass sie nun noch weniger Geld in der Börse hatte.
The Silver King existierte nicht mehr. Das Kuriositätenkabinett des Mr. Norman war weitergezogen oder hatte sich in Luft aufgelöst. Und beim Anblick der verrammelten Ladenwohnung gingen Celia all die Fragen durch den Kopf, die sie in Southampton hätte stellen müssen: Wen hatte ihr Vater verraten? Wieso hielt ihn ganz Southampton für einen Judas? Hatte die Mutter ihn aus dem gleichen Grund einen Verbrecher und Teufel genannt? Und was hatte der Seemann Ned Brooks mit einem billigen Tingeltangel zu schaffen, in dem man bärtige Frauen, knochenlose Schlangenmenschen und ähnliche Monstrositäten zur Schau stellte? Im Stadtteil Northam, wo ihr Vater gewohnt hatte und wo man ihn immer noch kannte – und offenkundig verabscheute –, hätte sie womöglich Antworten auf diese Fragen gefunden. Nicht unbedingt in der County Tavern, aber anderswo in Southampton. »Da kannst du fragen, wen du willst«, hatte Mr. Egerton gesagt.
Ja, hätte sie das nur getan! Doch wieder einmal war Celia Hals über Kopf losmarschiert, ohne ein zweites Mal und in Ruhe nachzudenken. Erneut waren ihre Beine schneller als ihr Verstand gewesen und hatten sie keinen Schritt vorwärtsgebracht. Es war zum Haareraufen!
Celia stand reglos auf dem Gehweg und wurde immer wieder von Passanten angerempelt und mit ärgerlichen Kommentaren bedacht. Hinter ihr ratterte eine Pferde-Straßenbahn vorbei, die Metallbeschläge der Räder quietschten laut in den Gleisen. Ein unbeschreiblicher Gestank umgab sie. Er unterschied sich deutlich von dem beißenden Geruch der Fabriken in Southwark. Hier roch es nach den Ausdünstungen und Ausscheidungen von Mensch und Tier. Kuhfladen, Schweinedung und Pferdeäpfel lagen auf dem Pflaster. Celia vermutete, dass auf der Whitechapel Road die Viehherden aus den östlichen Dörfern in die Stadt getrieben wurden, um dort auf den Märkten verkauft zu werden.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein monumentales Gebäude mit einer riesigen Uhr im Giebel, und über dem Eingang stand in großen Lettern: »The London Hospital«, wie Celia im Licht des Mondes erkennen konnte. Doch immer wieder ging ihr Blick zu dem verwaisten Kuriositätenkabinett, als hoffte sie, der deprimierende Anblick könnte sich auf wundersame Weise ändern.