»Willst du mal an mir schnüffeln?«, fragte Stanley, griente und griff sich in den Schritt. »Hab ich nichts gegen.«
»Kommst nicht von hier, was? Du sprichst so komisch«, meinte der andere und drängte sich an sie, bis nur noch der Koffer zwischen ihnen war. »Landeier kann ich gut leiden. Sollen ja angeblich am besten schmecken.«
»Lasst es gut sein, Jungs«, mischte sich Joseph ein. »Die ist doch noch ’n halbes Kind.«
»Kümmer du dich um dein eigenes Weibsbild, Joseph!«, schnauzte Stanley und stieß den Zeigefinger in Gingers Richtung. »Wir kümmern uns um unsers.«
»Ich bin nicht Ihr Weibsbild«, rief Celia, die nun das Knie des anderen Mannes an der Innenseite ihres Schenkels spürte. Die Tränen stiegen ihr in die Augen. »Bitte lassen Sie mich gehen!«
»Bist nicht unser Weibsbild, was?«, höhnte Stanley. »Wem gehörste dann?«
»Das Mädchen gehört zu mir«, erklang in diesem Augenblick eine helle Männerstimme von der Tür. »Sie ist meine Schwester.«
Überrascht wandten sich die beiden Männer um und starrten zum Eingang. Im gleichen Augenblick prusteten sie schallend los.
Weil die Männer ein wenig zur Seite getreten waren, hatte auch Celia einen freien Blick auf die Tür. Dort stand ein junger Mann in einer staubigen und fleckigen Uniform, die militärisch wirkte und dennoch nicht recht zu einem Soldaten passte. Jedenfalls hatte Celia eine ähnliche Uniform noch nirgends gesehen. Sie war schlicht und dunkelblau, mit einer dichten Reihe Metallknöpfe auf der Brust und hohem Stehkragen, auf dem ein weißes »S« eingestickt war. Auf dem Kopf trug der Mann eine ebenfalls dunkelblaue Kappe mit einem schmalen Hutband, auf dem zu lesen war: »The Salvation Army«.
»Deine Schwester?«, rief Stanley. Er schien der Wortführer der beiden Männer zu sein. »Wer’s glaubt, wird selig!« Wieder lachten die Männer, und auch Ginger stimmte kichernd mit ein.
Der Uniformierte nickte Celia kaum merklich zu und hob die Augenbrauen. Dann sagte er: »Ja, sie ist meine Schwester, weil sie wie ich ein Kind Gottes ist.«
Stanley bog sich vor Lachen. »Ein Kind Gottes!«, kreischte er und schlug seinem Kumpel auf den Oberarm. »Das ist gut! Den Witz muss ich mir merken.«
Wieder machte der Heilsarmist ein Zeichen mit dem Kopf in Celias Richtung und winkte gleichzeitig mit einem Stapel Papiere, den er in der Hand hielt. »Ja, ein Kind Gottes! Und wenn ihr morgen zur Church Street kommt und unserer Schwester Eva zuhört, werdet auch ihr unsere Brüder werden. Das verspreche ich euch.«
»Ich hab schon zwei Brüder«, sagte Stanleys Kumpel. »Die reichen mir. Kann sie nicht ausstehen.«
Dennoch hielt der Uniformierte ihm einen Handzettel hin und rief übertrieben laut: »Der Herr Jesus wird dir den Weg zu uns weisen! Er ist dir ein Freund und führt dich ins Licht!« Wieder nickte er Celia dabei seltsam zu.
Endlich begriff sie. Sie presste den Koffer an ihre Brust, sprang zwischen den beiden Männern hindurch nach vorn und rannte zur Tür. Als Stanley nach ihr fassen wollte, zuckte sie zur Seite, und im selben Moment warf der Mann in der Uniform ihm die Handzettel ins Gesicht mit den Worten: »Der Herr sei mit euch!«
»Teufel auch!«, fauchte Stanley und sprang ihr hinterher, doch er rutschte auf einem der Zettel aus und landete mit dem Hinterteil auf den Dielen.
Celia stieß die Tür auf und stürmte hinaus, nur eine Sekunde später folgte ihr der Heilsarmist. »Da lang!« Er deutete auf die dunkle Nische zwischen Schänke und Viehstall.
Im gleichen Augenblick wurde die Tür zur Schänke erneut aufgestoßen.
Celia und ihr Beschützer rannten zu der Nische, die sich als schmaler Durchlass entpuppte und anscheinend zu einer Parallelstraße der Whitechapel Road führte. Kaum hatten sie die schmale Gasse erreicht und waren nach links abgebogen, schon schlug der Uniformierte erneut einen Haken und bugsierte Celia in einen engen Yard, der wiederum zur Hauptstraße zu führen schien. Wenn Celia nicht in der Dunkelheit völlig die Orientierung verloren hatte, waren sie im Halbkreis gelaufen.
In der Gasse hinter ihnen erklangen eilende Fußschritte, die schnell näher kamen, sich dann aber ebenso schnell wieder entfernten. Stanley und sein Kumpel waren an dem unscheinbaren Eingang zum Yard vorbeigerannt.
»Das war knapp«, keuchte Celia und fasste sich an die Brust. »Danke!«
»Gern geschehen«, sagte der junge Heilsarmist und reichte ihr die Hand. »Mein Name ist Adam. Adam Bedford. Soldat des Heils.«
»Celia«, antwortete sie. »Celia Brooks.«
»Freut mich«, sagte Adam und drückte kräftig ihre Hand.
»Wir sollten schleunigst verschwinden«, meinte Celia und entzog ihm ihre Finger. »Bevor die beiden Kerle zurückkommen.«
»Ich hab noch was vergessen«, antwortete Adam und deutete auf eine hölzerne Latrine, die sich am Rand des Hofs befand, gleich neben einem baufälligen Gebäude, dessen schiefe Fassade mit Holzbalken gestützt war.
»Oh«, machte Celia verlegen.
Adam lachte. »Ich meine nicht den Abort, sondern die kleine Tür dahinter. Warte hier! Ich bin gleich wieder da.« Bevor sie etwas erwidern konnte, war er zu dem baufälligen Haus gelaufen und durch die Tür verschwunden. Celia folgte ihm, öffnete die Tür einen Spaltbreit und lugte hinein. Der ekelige Gestank, der ihr entgegenschlug, kam ihr bekannt vor. Sie waren auf der Rückseite der Schänke Cloak and Dagger gelandet. Die Latrine im Hinterhof gehörte anscheinend zum Wirtshaus.
Celia hörte Schritte aus dem Inneren, und im nächsten Augenblick stand Adam Bedford vor ihr und hielt triumphierend den Packen Handzettel in der Hand, den er nur kurz zuvor dem betrunkenen Stanley ins Gesicht geschleudert hatte.
»Wäre schade drum gewesen«, sagte er und lachte. »Komm!«
»Wohin?«
»Es ist schon spät.«
Die gleichen Worte hatte auch der Wirt in Southampton am gestrigen Abend benutzt. Celia zuckte unwillkürlich zurück und blieb stehen.
»Möchtest du, dass ich gehe und dich allein lasse?«, fragte Adam und zeigte ihr die Innenflächen seiner Hände. »Du musst es nur sagen. Ich werde dich nicht bedrängen. Ich will nur helfen.«
»Ich weiß nicht mehr weiter«, antwortete Celia und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »Ich habe mich verrannt.«
»Du kannst mir vertrauen«, sagte er und reichte ihr eines der Flugblätter. »Ich bin ein Soldat der Heilsarmee und werde dich zu Freunden bringen.«
Es war inzwischen viel zu dunkel, um noch irgendetwas auf dem Papier zu lesen. Celia steckte es ein und sagte: »Ich habe keine Freunde.«
»Das ist nicht wahr«, antwortete Adam lächelnd, »du hast sie nur noch nicht kennengelernt.«
3
Niemals hätte Celia gedacht, dass schlafende Menschen so laute Geräusche und derart üble Gerüche von sich geben konnten. Während sie reglos auf ihrem harten Bett lag und zu den schrägen Bohlen des Dachstuhls hinaufstarrte, die sie in der Finsternis an ein Spinnennetz erinnerten, machten die Frauen, die mit Celia im Schlafraum lagen, einen Lärm, als wären sie wach und wollten sich gegenseitig am Einschlafen hindern. Einige redeten im Schlaf oder stießen in unregelmäßigen Abständen wirre Rufe aus, andere wälzten sich so oft hin und her, dass die Betten knarrten und quietschten, und nicht wenige schnarchten so laut, dass man sich am liebsten die Ohren hätte zuhalten mögen. Und doch war Celia froh, hier zu sein und in einem Bett zu liegen, auf einer leidlich sauberen Matratze aus Seetang, in eine dünne Decke gehüllt und mit einem Lumpenkissen unter dem Kopf. Auch wenn das hölzerne Geviert des Bettes an einen schmucklosen Sarg erinnerte.
Zwanzig dieser gezimmerten Kästen gab es in dem Dachraum, weitere Schlafsäle befanden sich im ersten Stock und im Erdgeschoss des Hauses. In der Dachstube standen sich jeweils zehn Holzkisten in Reih und Glied gegenüber, mit einem schmalen Mittelgang dazwischen, wie Soldaten beim Appell. Celia lag, vom Eingang aus gesehen, im hintersten und dunkelsten Winkel, direkt an der unverputzten Wand, unter dem Spruch »Bist du bereit zu sterben?«, der in Kopfhöhe in roten Lettern auf einem Schild zu lesen war. Celia erschien der Spruch seltsam unpassend, denn das Nachtasyl für Frauen in der Hanbury Street hatte es sich ja gerade zur Aufgabe gemacht, die mittellosen Frauen, die hier Unterschlupf fanden, nicht umkommen zu lassen.