Er bedachte mich mit einem hasserfüllten Blick und wandte sich dann ab.
Nur wenig später kam der Wirt mit dem überbackenen Ragout aus der Küche, das er zwar in einem schmierigen Tontopf, aber mit einem »Wohl bekomm’s!« servierte. Die oberste Schicht des Ragouts war vom langen Stehen im Ofen völlig vertrocknet und verkohlt, dafür war der Rest des Würzfleischs verkocht. Ich hätte vermutlich das Bries nehmen sollen.
»Und du weißt wirklich nicht, wo sie ist, Rod?«, wurde ich durch die Stimme des Salutisten von meinem ungenießbaren Essen abgelenkt.
»Wie oft soll ich es dir noch sagen, Adam?«, antwortete der Wirt und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Kumpel. Ich habe sie seit Samstag nicht gesehen.«
»Kannst du mir schwören, dass ihr euch nicht heimlich getroffen habt?«, hakte Bruder Adam nach.
»Warum fragst du überhaupt, wenn du mir ohnehin nicht glaubst?«, erwiderte der Wirt verärgert. »Und warum heimlich? Wenn ich mich mit ihr treffen wollte, dürfte jeder davon erfahren. Sogar du! Denn wenn ich dich richtig verstanden habe, hast du keinerlei Ansprüche auf die junge Dame.«
»Ich bin für sie verantwortlich«, rief der Heilsarmist und warf sich in die Brust. »Und ich werde es nicht zulassen, dass du sie ins Unglück stürzt.«
»Jetzt komm mal von deinem hohen Ross runter!«, knurrte der Wirt, jetzt sichtlich genervt. »Vor mir ist sie jedenfalls nicht davongelaufen. Und ich will gar nicht wissen, was du vorher mit ihr angestellt hast. Wie ich gehört habe, hast du dich ja vor dem Frauenasyl aufgeführt wie ein Wahnsinniger. Komm mir also nicht mit Moralpredigten, Adam!«
»Woher weißt du das?«, entfuhr es dem anderen.
»Man hört so einiges«, antwortete der Wirt lachend. »London ist ein Dorf.«
Bruder Adam wollte etwas erwidern, doch er überlegte es sich anders, starrte missmutig auf seine Finger und murmelte: »Du hättest ihr das Foto nicht geben dürfen.«
»Warum nicht?«
»Es war nicht richtig!«
»Unsinn! Es war nur ein Foto.«
In diesem Augenblick klopfte Major Pringle von außen ans Fenster und machte den Heilsarmisten in der Schänke ein Zeichen, hinauszukommen. Offensichtlich war die Protestaktion seines Korps beendet. Dem zufriedenen Lächeln in seinem Gesicht war zu entnehmen, dass die Aktion in seinen Augen ein voller Erfolg gewesen war.
Während Bruder Adam beinahe fluchtartig die Kneipe verließ, ohne sich vom Wirt zu verabschieden, leerte ich mein Bierglas, legte einige Münzen auf den Tisch und stand auf.
»Hat’s nicht geschmeckt?«, wunderte sich der Wirt und deutete auf das kaum angetastete Ragout. »War ganz frisch.«
Ich grinste säuerlich und verließ kommentarlos den Schankraum.
Als ich in Mr. Barclays Büro gesagt hatte, ich hätte einen Termin bei einem Fotografen in der Fenchurch Street, war dies der erstbeste Vorwand gewesen, der mir in den Sinn gekommen war. Doch als ich im George Inn die beiden Männer von irgendeinem Foto hatte reden hören, war mir der Name Newcombe oder Newborne wieder in den Sinn gekommen, und ich beschloss, den Laden in der Fenchurch Street aufzusuchen. Von Southwark aus war es ja nur ein Fußweg von wenigen Minuten.
Erst als ich kurz darauf die London Bridge überquert und die Fenchurch Street erreicht hatte, fragte ich mich, was ich eigentlich von dem Fotografen zu erfahren hoffte. Das Bild, das Simeon abgemalt oder als Vorlage für sein Gemälde benutzt hatte, war vor vielen Jahren aufgenommen worden und unterschied sich vermutlich in nichts von den unzähligen anderen Porträts, die von dem Fotografen Tag für Tag angefertigt wurden. Nicht einmal das Hintergrundmotiv kannte ich, denn wie Simeon gesagt hatte, war das pastorale Hirtenthema erst auf dem Gemälde entstanden. Sollte ich tatsächlich dem Fotografen gegenübertreten und ihn fragen, ob er sich an ein Foto einer unbekannten jungen Frau erinnerte, das er vor mehr als acht Jahren im Auftrag eines unbekannten Mannes in seinem Studio aufgenommen hatte? Der Fotograf würde mich auslachen. Und das mit Recht.
Die Suche nach dem Fotografen war ohnehin beendet, bevor sie begonnen hatte. Denn es gab keinen Newcombe oder Newborne in der Fenchurch Street. Nur ein Fotostudio der Brüder A. & G. Taylor, das seinen Eingang zudem in der angrenzenden Cullum Street hatte. »Fotografen Ihrer Majestät der Königin«, wie es auf dem Schild über dem Eingang hieß. Vielleicht war es gerade die Zwecklosigkeit und Absurdität meiner Suche, die mich den Laden wider besseres Wissen betreten ließ. Oder es lag schlicht daran, dass es in diesem Augenblick wie aus Gießkannen zu regnen begann.
Ein Lehrling oder Gehilfe stand hinter dem Ladentisch und fragte mich mit einer devoten Verneigung, womit er dienen könne. Ich fragte ihn, ob er einen Fotografen namens Newborne oder Newcombe in der Fenchurch Street kenne, doch er verneinte mit einem Achselzucken und einer weiteren Verbeugung.
»Wenn Sie ein Foto wünschen, dann gibt es nichts, was die Brüder Taylor nicht für Sie tun könnten«, leierte er einen auswendig gelernten Werbespruch herunter und deutete auf ein Album, das ausgebreitet vor ihm lag. »Kabinettkarten, Visitenkarten, Kunstporträts, Landschafts-und Gebäudedarstellungen, Hochzeitsfotos. Alles, was das Herz begehrt, Sir.«
Ich bedauerte und fragte, ob es einen älteren Kollegen gebe, der schon länger im Laden arbeite und womöglich Auskunft geben könne. Er nickte, verbeugte sich und wandte sich an einen etwa dreißigjährigen Mann, der gerade mit einer Standkamera durch eine Pendeltür aus einem Nebenraum kam. Nachdem der Lehrling ihm erklärt hatte, worum es ging, schüttelte er den Kopf und sagte: »Frag Mr. Wilson, der ist am längsten hier!«
»Einen Moment, Sir«, wandte sich der Lehrling an mich und verschwand in einem Hinterzimmer direkt neben dem Ladentisch.
Kurz darauf erschien ein älterer Mann mit grauem, pomadisiertem Haar, bunt karierter Tweedweste und verschlissenen Ärmelschonern über dem Hemd. Da er weder Krawatte noch Jacke trug, schien er ein Kontorist und eigentlich nicht für den Kundenverkehr zuständig zu sein.
»Wen suchen Sie, Sir?«, erkundigte er sich.
»Newborne oder Newcombe.«
»Dann sind Sie hier richtig.«
»Ich verstehe nicht.«
»Charles Newcombe«, sagte Mr. Wilson. »Fenchurch Street 135. Dies war sein Laden. Früher einmal. Bevor die Brüder Taylor das Geschäft gekauft haben. Wie so viele andere in der Stadt.«
»Wann hat Newcombe sein Studio verkauft?«
Mr. Wilson runzelte die Stirn. »Das ist schon lange her. Anfang der Siebziger, wenn ich mich nicht irre. Damals habe ich noch nicht für die Brüder Taylor gearbeitet.«
Anfang der Siebziger, überlegte ich. Dann war das Foto sehr viel älter als das Gemälde, das vor etwa acht Jahren nach dem Bild entstanden war. Und die Wahrscheinlichkeit, irgendetwas darüber zu erfahren, wurde noch geringer.
»Wissen Sie, wo ich diesen Mr. Newcombe finde?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass die ganze Angelegenheit eine Schnapsidee gewesen war. »Hat er ein anderes Fotostudio eröffnet?«
»Tut mir leid, Sir«, antwortete Mr. Wilson bedauernd.
»Newcombe?«, mischte sich ein weiterer Angestellter ein, der mit großformatigen Fotoabzügen aus einem mit schweren Vorhängen verschlossenen Raum kam. Vermutlich handelte es sich um die Dunkelkammer.
»Dieser Gentleman sucht Mr. Newcombe«, erklärte Mr. Wilson.
»Wegen dem Mädchen?«, fragte der andere und fuhr sich mit den Fingern über den dunkelblauen Kittel.
»Welches Mädchen?«, fragte der Lehrling.
»Die gestern hier war«, sagte der Mann, legte die Abzüge auf den Verkaufstisch und setzte hinzu: »Die hat auch nach diesem Newcombe gefragt.«
»Können Sie mir sagen, warum?«, wandte ich mich an ihn.
»Sie hatte ein altes Foto dabei und wollte mehr darüber erfahren«, antwortete er achselzuckend. »Ob man herausbekommen kann, wer das Foto bezahlt hat. Ob es eine Lieferanschrift gab. Solche Sachen.«