»Konnten Sie ihr helfen?«
»Das Archiv des alten Newcombe wurde von uns übernommen, glaube ich. Aber wo die Negative oder die Geschäftsbücher sind, das weiß ich nicht.«
»Die Negative sind im Keller«, sagte Mr. Wilson. »Und die Akten sind im Lager hinter dem Büro.« Er deutete auf das Zimmer, aus dem er gekommen war.
»Hat das Mädchen das Foto hiergelassen?«
Der Mann mit dem Kittel schüttelte den Kopf, hob dann aber die Hand und sagte: »Das war auch nicht nötig. Die Negative sind ja nummeriert, und die Nummern sind auf den Abzügen angegeben. Warten Sie!« Er kramte in einer Kiste, die auf dem Tisch neben der Kasse stand und bis oben mit Zetteln und Quittungen gefüllt war. »Ich hab ihr gesagt, sie soll mir die Negativnummer und ihre Anschrift hinterlassen. Für alle Fälle. Sie wollte wiederkommen, hat sie gesagt.« Wieder vertiefte er sich in der Kiste und fischte schließlich ein Papier heraus. »Da ist es ja!«
»Zeigen Sie!«, rief ich aufgeregt.
»Was wollen Sie eigentlich von dem Mädchen?«, erkundigte sich Mr. Wilson und nahm seinem Kollegen das Papierchen aus der Hand.
Ja, was wollte ich von dem Mädchen? Sie fragen, was sie mit der Familie Ingram zu schaffen hatte. Ob sie meinen Vater kannte. Ob ihre Mutter meinen Vater kannte. Ich sagte: »Sie ist eine Verwandte.«
»Sie sah nicht aus wie die Verwandte eines Gentlemans«, sagte der Mann im Kittel. »Eher wie eine Dienstmagd.«
»Eine arme Verwandte«, verbesserte ich mich und versuchte, verbindlich zu lächeln. »Und genau deshalb möchte ich ihr helfen.« Da die Blicke der Männer skeptisch blieben, fügte ich hinzu: »Auf dem Bild ist ihre Mutter abgelichtet.«
Mr. Wilson schaute seinen Kollegen an. Der nickte und bestätigte: »Das hat das Mädchen auch gesagt.«
Das bewies zwar eigentlich nichts. Dennoch schien der alte Mr. Wilson beruhigt zu sein und schob mir das Papier über den Tisch. Ich las:
»Nr. 5689
Celia Brooks
z.Zt. bei Maureen Watson
16 White Horse Lane, zweiter Hinterhof.«
»Wo finde ich die White Horse Lane?«, fragte ich.
»In Stepney«, antwortete Mr. Wilson. »Kurz vorm Kanal. Geht nach Süden von der Mile End Road ab.«
Die anderen schauten ihn überrascht an.
»Ich hab mal in der Gegend gewohnt«, sagte er, und es klang beinahe wie eine Entschuldigung.
»Im East End?«, wunderte sich der Lehrling.
»Ist lange her«, sagte Mr. Wilson und zupfte an seinen Ärmelschonern.
»Könnten Sie für mich einen Abzug des Negativs mit der Nr. 5689 machen?«, fragte ich. »Und in den Büchern nachschauen, wer das Foto wann in Auftrag gegeben hat oder wohin die Bilder geliefert wurden?«
»Das kommt darauf an, in welchem Zustand sich das Negativ befindet«, sagte der Mitarbeiter, der die Kamera in der Hand gehalten und die ganze Zeit keinen Ton von sich gegeben hatte. »Und um was für eine Fotoplatte es sich handelt. Damals wurde zum Teil noch mit nassen Platten gearbeitet, und die Haltbarkeit war nicht mit heutigen Trockenplatten vergleichbar. Seit einiger Zeit gibt es sogar Negative aus Zell…«
»Tun Sie, was in Ihrer Macht steht«, unterbrach ich ihn und legte drei Crown-Münzen auf den Tisch. »Das ist vorab für Ihre Bemühungen. Ich komme morgen wieder. Schaffen Sie das?«
»Selbstverständlich, Sir«, sagte der Lehrling und verbeugte sich. »Es gibt nichts, was die Brüder Taylor nicht für Sie tun könnten. In welchem Format wünschen Sie den Abzug? Visitenkarte oder Kabinett?«
»So groß wie möglich«, antwortete ich, setzte meinen Zylinder auf und verabschiedete mich. Ich verließ das Fotostudio, rannte durch den immer noch strömenden Regen, winkte einer Droschke, sprang hinein und rief dem Kutscher zu: »Stepney!«
10
Die Nummer 16 in der White Horse Lane befand sich direkt gegenüber vom Trafalgar Square, einem verwilderten und von schmucklosen, backsteinernen Reihenhäusern umgebenen Garten, der wenig mit dem gleichnamigen Platz in Westminster gemein hatte. Dieser Trafalgar Square hatte weder sprudelnde Brunnen noch riesige Statuen oder Säulen zu bieten, es handelte sich lediglich um eine von Büschen und Dornensträuchern durchsetzte Rasenfläche mit einem dreckigen Tümpel in der Mitte. Einige Holzbänke waren im Nebel zu sehen; an den vom Regen aufgeweichten Zeitungen und dem Müll ringsum konnte man erkennen, dass auch dieser Platz den Obdachlosen als Nachtasyl diente. Das Haus mit der Nummer 16 befand sich auf der Westseite der Straße. Es entpuppte sich als ein dreistöckiger Gewerbekomplex mit mehreren Innenhöfen, die so eng bebaut waren, dass auch bei Sonnenschein kein Licht hineinfiel. Bei Regen und Nebel, wie im Moment, war es in den Höfen nahezu finster, auch weil es keinerlei Beleuchtung gab.
An der Straße befanden sich ein Pfandleiher und eine Korbmacherei, doch ein Großteil der hinteren Gebäude stand offenbar leer. Lediglich die Werkstätten eines Schuhmachers und eines Tischlers sah ich im ersten Hof, der zweite Hof gehörte zu einem Lumpensammler namens Adams. Direkt über dem ebenerdigen Lager des Lumpenhändlers befand sich eine heruntergekommene Pension, eine Art Sammelunterkunft für Mittellose, deren Eigentümer laut einem Schild an der Fassade ebenfalls Adams hieß. »Gute Betten für Threepence die Nacht«, hieß es auf der Werbetafel. Die Familie Adams schien sich darauf spezialisiert zu haben, den Unrat von den Straßen zu lesen.
Ein Mann mit Lederschürze und Schiebermütze saß vor dem Lumpenlager und war damit beschäftigt, rostige Nägel mit einer Kneifzange aus alten Holzbrettern zu ziehen. Ich fragte ihn, wo ich Maureen Watson finden könnte, doch er zuckte lediglich mit den Schultern und deutete dann nach oben zur Pension.
»Versuchen Sie’s im Dosshouse.«
»Dosshouse?«, wunderte ich mich. »Meinen Sie die Pension?«
»Sag ich doch«, knurrte er und bog einen herausgezogenen Nagel gerade.
Ich stieg eine schmale und sehr steile Treppe hinauf in den ersten Stock und landete an einem verwaisten Tresen, über dem ein Schild hing: »Rezeption«. Ich schlug auf die Glocke und öffnete eine Tür, die rechter Hand zu einem düsteren Flur führte und an der ein Schild mit der Aufschrift »Männer« hing. Von dem Flur, der von einem gelblichen Gaslicht beleuchtet wurde, gingen links und rechts weitere Türen ab. Durch eine von ihnen, die offen stand, blickte ich in einen winzigen Raum, in dem vier Doppelstockbetten zusammengepfercht waren, sodass zwischen den Bettgestellen kaum Platz zum Stehen war. An dem Bettzeug und den Kleidern, die auf den Matratzen lagen, erkannte ich, dass sämtliche Betten belegt waren.
»Ja?«, krächzte eine Frauenstimme hinter mir am Empfang.
»Wohnen bei Ihnen auch Frauen?«, fragte ich und schaute in das hässliche Gesicht einer dicken Matrone, deren Haut an eine verschrumpelte Orange erinnerte. Wegen der tiefen Runzeln und der gelblichen Farbe.
»Ein Stockwerk höher«, sagte die Frau und wies mit dem Zeigefinger zur Treppe. »Wen suchen Sie denn?«
»Maureen Watson und Celia Brooks. Können Sie mir sagen, wo ich sie finde?«
»Kann ich. In der Künstlermansarde.«
»Künstlermansarde?«
»Für die Leute vom Palast«, antwortete sie achselzuckend.
»Palast?«
»Red ich undeutlich? Unterm Dach.« Wieder ging ihr Finger in Richtung Treppe, und sie setzte hinzu: »Immer der Nase nach.«
»Danke«, sagte ich verwirrt und wandte mich ab. Ich war mir nicht sicher, ob sie mit ihrer letzten Bemerkung die Richtung oder den Gestank gemeint hatte.
»Haben Sie keinen Koffer dabei?«, rief sie mir nach.
»Einen Koffer?«, wunderte ich mich. »Ich möchte hier nicht wohnen.«
»Wohnen!«, lachte die Frau und schlug mit der flachen Hand auf den Empfangstisch. »Sehr witzig, Sir! Ich lach mich tot. Na, gehen Sie mal, die warten schon. In der Mansarde.«