Ich hatte keine Ahnung, was sie mit ihren Worten gemeint hatte, doch ich verzichtete auf eine Nachfrage, da ich ohnehin nur wieder eine unverständliche Antwort bekommen hätte, und beeilte mich, nach oben zu gehen. Im Dachgeschoss, das niedriger als die übrigen Stockwerke war, befand sich lediglich eine schmale Tür am Ende des Treppenabsatzes. Als ich ans Holz klopfte, wurde die Tür beinahe im selben Augenblick aufgerissen.
Vor mir stand eine zierliche, fast dürre und sehr kleine Frau mit dunkelbraunem Haar und einem hübschen, ebenfalls sehr mageren Gesicht. Sie starrte mich mit einer Mischung aus Ärger und Erleichterung an und sagte: »Wurde auch Zeit!«
»Ich möchte zu Miss Celia Brooks«, sagte ich irritiert und lüpfte den Zylinder.
»Wir warten schon seit Stunden, Doktor!«, schnauzte die junge Frau und zog mich am Ärmel in die Wohnung.
Unversehens stand ich in einem winzigen Flur, von dem zwei kleine Zimmer abgingen. Rechts befand sich die Küche samt Ofen, Waschzuber und Esstisch, links ein schmales und fensterloses Schlafzimmer mit einem einfachen Bettgestell und einer weiteren Matratze, die auf dem blanken Boden unter einer Dachschräge lag. Auf dem Bett lag das junge Mädchen, das ich suchte. Celia Brooks. Sie schien zu schlafen, doch an dem schweißnassen Haar und dem bleichen Gesicht konnte ich erkennen, dass es ihr alles andere als gut ging. Außerdem roch es in der Kammer nach Erbrochenem.
»Es tut mir leid, Ma’am«, sagte ich und ging an der Frau vorbei ins Schlafzimmer. »Ich bin kein Doktor.« Ich deutete auf das Mädchen und fragte: »Was hat sie? Was ist mir ihr?«
»Das weiß ich nicht, deswegen habe ich ja die Küchenmagd von Mrs. Adams nach dem Doktor rufen lassen. Heute Vormittag schon, aber er hat uns wohl vergessen.« Sie schnaufte abfällig und fragte: »Wer sind Sie, wenn Sie nicht der Arzt sind? Was wollen Sie von Celia?«
»Mein Name ist Rupert Ingram. Ich bin … ein Freund«, antwortete ich ausweichend, setzte mich auf die Bettkante und befühlte die Stirn des Mädchens. Die Haut war glühend heiß und verschwitzt. Bei meiner Berührung fuhr sie wie unter Schmerzen zusammen, ohne jedoch ihre Augen zu öffnen. »Was haben Sie ihr gegeben?«
»Laudanum«, antwortete die Frau. »Das war das Einzige, was Mrs. Adams im Haus hatte. Gegen die Schmerzen und das Fieber.«
»Darf ich?«, fragte ich, wartete jedoch nicht auf eine Antwort, sondern schlug die Bettdecke zurück. Das Nachthemd des Mädchens war von oben bis unten schweißnass und klebte an ihrem Körper, sodass es fast durchsichtig war. Wunden oder blutige Stellen waren jedoch nicht zu sehen. Schnell legte ich die Decke zurück und griff nach ihrem rechten Arm, um den Puls zu fühlen. »Oh mein Gott!«, entfuhr es mir beim Anblick ihrer Hand. Der Zeigefinger war dunkelblau und fürchterlich angeschwollen, die gesamte Hand war entzündet und rot wie Feuer.
»Seit wann ist sie so, Mrs. Watson?«
»Miss Watson. Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Seit wann?«, wiederholte ich meine Frage.
»Gestern Morgen hatte sie bereits Kopfschmerzen, aber noch kein Fieber«, sagte sie und fuhr sich mit der Hand über das Kinn. »Ich war den ganzen Tag unterwegs und musste abends auf die Bühne, drüben im People’s Palace. Eigentlich sollte Celia mir assistieren, aber zur Probe am Nachmittag ist sie nicht gekommen. Und als ich meine Sachen aus der Wohnung geholt hab, da war Celia verschwunden.«
»Sind Sie Schauspielerin?«, wollte ich wissen.
»So was Ähnliches«, antwortete Miss Watson und lächelte verlegen. »Als ich nach dem Auftritt nach Hause kam, da lag Celia in ihrer eigenen Kotze auf dem Boden vor ihrer Matratze. Hat’s nicht mehr bis ins Bett geschafft. Nur noch gestammelt und sich geschüttelt. Da hab ich sie in mein Bett gelegt und das Laudanum besorgt, damit sie schlafen kann. Was ist mir ihr, Mr. Ingram?«
»Vermutlich eine Blutvergiftung«, sagte ich und überlegte, was in solchen Fällen zu tun war. »Gibt es in der Nähe eine Apotheke?«
»In der Mile End Road.«
»Gehen Sie und kaufen Sie Karbolsäure! Oder gleich Lister’sche Verbände, wenn die so etwas haben. Außerdem abgekochtes Wasser und steriles Verbandszeug. Jodtinktur kann auch nicht schaden.« Da sie nicht reagierte, fuhr ich sie wütend an: »Jetzt machen Sie schon!«
Sie seufzte gequält, hob die Achseln und schüttelte den Kopf.
»Natürlich, entschuldigen Sie«, begriff ich, holte meine Brieftasche aus der Jacke und gab ihr eine Pfundnote. »Beeilen Sie sich, Miss Watson!«
»Wird Celia …?«, fragte sie, während sie das Geld einsteckte und einen Mantel anzog.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich und starrte auf den entzündeten rechten Zeigefinger. »Beeilen Sie sich!«
Als hinter mir die Wohnungstür ins Schloss fiel, durchfuhr mich ein Gedanke wie ein Skalpell. Unwillkürlich fasste ich mir an meine bepflasterte Wange und das entzündete Muttermal. Die Ratten!
Am Freitagabend war mir das Mädchen im Fackelzug der Heilsarmee über den Weg gelaufen beziehungsweise vor die Füße gestolpert. Und dann hatte es erschrocken aufgeschrien. Damals hatte ich gedacht, sie hätte geschrien, weil sie mich nach unserer ersten Begegnung am Bahnhof Waterloo wiedererkannt hatte, doch jetzt begriff ich, was tatsächlich geschehen war. Celia Brooks war in den Finger gebissen worden. Wahrscheinlich von der Ratte, die ich in meinem Käfig unter dem Tuch getragen hatte.
»Könnte spaßig werden«, hatte Simeon gesagt.
Alles nur ein dummer Scherz. Eine alberne Laune. Ein harmloser Streich. Wie in der Nacht, in der ich Elizabeth Stride aus dem Frauenasyl gelockt hatte. Weil es mir Spaß bereitet hatte. Weil es mir möglich gewesen war. Weil ich nicht begriffen hatte, dass alles, was ich tat, unmittelbare Folgen hatte und anschließend nicht ungeschehen gemacht werden konnte. Ein entzündeter Rattenbiss, der für mich eher lästig als gefährlich gewesen war, konnte einem armen und ohnehin geschwächten Mädchen das Blut vergiften. »Sie haben sie auf dem Gewissen«, hatte Eva Booth gesagt. Alles wiederholte sich. Alles begann von vorne!
»Nicht, kleine Celia«, sagte ich und streichelte ihr über die heißen Wangen und die schweißnasse Stirn. »Bitte nicht!«
Wieder zuckte sie wie unter Schmerzen zusammen. Plötzlich bäumte sie sich auf und öffnete die Augen. Doch sie starrte durch mich hindurch, schien mich überhaupt nicht wahrzunehmen und wisperte: »Ein Nachbar. Ein komischer Kauz!« Dann sank sie mit einem lauten Ächzen wieder ins Kissen.
SECHSTER TEIL
»There, as if it had that moment sprung out of the earth or dropped from the heaven, stood the figure of a solitary Woman, dressed from head to foot in white garments, her face bent in grave inquiry on mine, her hand pointing to the dark cloud over London.«
(»Dort, als wenn sie in diesem Moment aus der Erde entsprungen oder vom Himmel gefallen wäre, stand die Gestalt einer einzelnen Frau, von Kopf bis Fuß in weiße Gewänder gekleidet, ihr Gesicht in ernster Frage mir zugeneigt und mit der Hand auf die dunkle Wolke über London deutend.«) Wilkie Collins, The Woman in White, 1860
MONTAG, 22. OKTOBER 1888
(AM TAG ZUVOR)
1
Als Celia am frühen Montagmorgen durch Maureens Schnarchen geweckt wurde, empfing sie ein pochender Schmerz in den Schläfen, und ein unangenehmer Schauer fuhr ihr in wiederkehrenden Wellen über die Haut. Bereits am späten Abend, als sie sich auf die durchgelegene Matratze unter der Dachschräge gelegt hatte, hatte sie ein leichtes Brummen im Kopf und ein Frösteln am Körper verspürt, doch das Brummen hatte sie sich mit den Aufregungen des Umzugs und das Frösteln mit der zugigen Dachkammer und der dünnen Bettdecke erklärt. Nun wohnte sie also bei Maureen und würde ihr als Assistentin, Dienstmädchen und Köchin zur Hand gehen. Und sie womöglich bald auch als gute Freundin gewinnen, wie Celia inständig hoffte.