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Der erste Eindruck von ihrer neuen Umgebung war allerdings alles andere als einnehmend gewesen. Eher ernüchternd und deprimierend. Ein Nachtasyl! Nicht unähnlich der Unterkunft in der Hanbury Street, nur dass die dicke Mrs. Adams drei Pence pro Matratze und Nacht für die schäbige Schlafgelegenheit berechnete. Als Celia am gestrigen Sonntagmittag an der Rezeption gestanden und die nach ranzigem Fett und gedünsteten Zwiebeln riechende Zimmerwirtin gefragt hatte, wo sie Miss Maureen Watson finden könne, da wäre sie am liebsten auf der Stelle umgekehrt und fortgerannt. Denn während das Heim der Heilsarmee ein zwar ärmlicher, aber sicherer Ort für mittellose und bedürftige Frauen war, handelte es sich bei dem Dosshouse in der White Horse Lane um eine Absteige der übelsten Art. Die Wirtin schien sich weder für die Sauberkeit ihres Hauses noch für den Zustand ihrer Gäste zu interessieren. Aus dem Männertrakt, der sich auf dem gleichen Stockwerk wie die Rezeption befand, stank es nach Alkohol, Schweiß und Urin. Aus dem Nebenraum war das lautstarke Fluchen und heftige Streiten mehrerer Männer zu hören, ohne dass es Mrs. Adams weiter kümmerte. Den Gestank nahm sie vermutlich gar nicht mehr wahr, und das Geschrei und Gezeter schien sie geflissentlich zu überhören.

Erleichtert hatte Celia erfahren, dass Maureen zwar im Haus der Adams wohnte, allerdings nicht im Nachtasyl für Frauen im zweiten Stock. Es gab eine winzige Mansarde unter dem Dach, die vom People’s Palace reserviert worden war, um hier Gäste und reisende Künstler vorübergehend unterzubringen. Wie Maureen kurz darauf bei ihrer Begrüßung erzählte, habe man bereits ein eigenes Gästehaus auf dem Gelände des Volkspalastes gebaut, doch es werde noch eine Weile dauern, bis die Wohnungen bezugsfertig seien. Dass man Maureen ausgerechnet die schäbige Dachkammer der Mrs. Adams zur Verfügung stellte, sagte einiges über den Stellenwert aus, den man Maureen beimaß. So dachte Celia bei sich, sagte es aber nicht, sondern bedankte sich erneut und aufrichtig, dass Maureen sie bei sich aufnahm.

»Ach was!«, winkte Maureen ab und schüttelte sichtlich erfreut Celias Hand. »Bin doch froh, nicht allein in dieser Bruchbude wohnen zu müssen.«

Bei der Berührung ihrer Hand schrie Celia gequält auf. Die Wunde am Zeigefinger hatte sich entzündet, und der Schmerz strahlte bis in den Unterarm aus. Maureen ließ erschrocken die Hand los, besah sich die Wunde und sagte: »Damit solltest du zum Arzt gehen.«

»Die Entzündung ist von allein gekommen«, antwortete Celia und stellte den Koffer mit ihren wenigen Habseligkeiten auf dem staubigen Boden ab. »Also geht sie auch von allein. Das hat meine Mutter immer gesagt.«

»Und?«, fragte Maureen und führte Celia in eine winzige Kammer, die sowohl als Küche, Bad und Essraum diente. »Ist deine Mutter gut damit gefahren?«

»Sie ist an Typhus gestorben«, sagte Celia und wusste selbst nicht, ob sie das als Antwort auf Maureens Frage meinte.

Die Entzündung im Finger war über Nacht nicht schlimmer geworden. Jedenfalls nicht sichtbar. Und auch der Schmerz bei Berührung war unverändert, fand Celia. Ein gutes Zeichen. Vermutlich hatten ihre Kopfschmerzen mit den wüsten Gedanken und Alpträumen zu tun, die sie in der Nacht gepeinigt hatten. Das Bild aus der Zeitung, mit dem Rettungsboot und den vier Männern darin, war ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ein getöteter Kabinenjunge, zwei zum Tode verurteilte und später begnadigte Seemänner und ein verschollener Judas. Edmund Brooks, genannt Ned. Der Kannibale des Meeres. Eine monströse Attraktion im Gruselkabinett des Silberkönigs in der Whitechapel Road Nummer 123. Was für ein Schreckensreigen!

Doch es gab ein zweites Bild, das Celia im Schlaf heimgesucht hatte. Das Foto einer hübschen, jungen Frau in Weiß. Mary Brooks, damals noch Mary Tremain. Im Sonntagsstaat, mit neckisch forschem Blick. Ein gerahmtes Foto aus dem Treppenhaus des George Inn, das einem längst verstorbenen Wirt gehört hatte, von dem ihre Mutter immer nur widerwillig und mit Abscheu gesprochen hatte. Rodney Webster, ein vermutlich ebenso lüsterner und unverschämter Bursche wie sein segelohriger Sohn Rod, der heute das Inn leitete und sich Celia so aufdringlich genähert hatte.

Das passte alles nicht zusammen, dachte Celia, als sie sich schwerfällig von ihrem Lager erhob, um den Ofen in der Küche zu heizen und Wasser aus dem Erdgeschoss zu holen. Als es sie vor wenigen Tagen nach London verschlagen hatte, war sie auf der Suche nach ihrem verschwundenen Vater gewesen, doch inzwischen glaubte sie beinahe, dass ihr auch die Mutter entglitten war. Fremd geworden. Voller Geheimnisse und unbekannter Seiten. Und es beschlich sie das beunruhigende Gefühl, sich auf nichts und niemanden verlassen zu können. Vermeintliche Freunde wie Adam Bedford entpuppten sich als streitsüchtige Peiniger, gottesfürchtige Seeleute als blutrünstige Menschenfresser, arme Dienstmägde als hübsche … ja, was? Celia musste sich eingestehen, dass es vor allem der fröhliche und kecke Blick ihrer Mutter auf dem Foto war, der sie so erstaunte und ihr missfiel. Das war ungerecht, das wusste Celia sehr wohl, doch sie hatte ihre Mutter nie anders als traurig, verbittert oder verhärmt erlebt. Stets hatte Mary Brooks über ihr Leid geklagt, über ihren trunksüchtigen Mann, ihre ungezogenen Kinder, ihr freudloses Leben in Brightlingsea. Nur wenn sie von ihrer Zeit in London erzählt hatte, war hinter der Verbitterung eine Art Wehmut oder Sehnsucht zu erkennen gewesen. Und wenn Celia das Foto betrachtete, bekam sie eine Ahnung davon, wonach sich ihre Mutter gesehnt hatte.

Nachdem Celia den Tisch gedeckt, Brot geschnitten, Porridge und Tee gekocht und Maureen geweckt hatte, saß sie schweigend und ohne Appetit am Tisch und beobachtete Maureen, die mit vollem Mund plapperte und voller Vorfreude von ihrem ersten Auftritt am heutigen Abend schwärmte. Selbst mit Schlaffalten im Gesicht und zerzaustem Haar sah sie wunderschön aus, fand Celia. Wie ein Engel. Am Nachmittag sei die abschließende Probe, erklärte Maureen, und Celia solle um drei Uhr mit der Kostümtasche und dem ledernen Schminkköfferchen im People’s Palace sein. Alles Weitere werde Maureen ihr vor Ort erklären.

»Was ist mit dem Mittagessen?«, fragte Celia und schlürfte den bitteren Tee, den sie zu lange hatte ziehen lassen.

Maureen schüttelte den Kopf und sagte: »Ich muss gleich los und ein paar Besorgungen machen. Ich esse unterwegs. Du kannst ja inzwischen das Nötigste einkaufen und den Boden wischen. Der hat bestimmt seit Monaten kein Wasser zu Gesicht bekommen.«

»Zu Gesicht?«, fragte Celia und bemerkte, dass sie gar nicht richtig zugehört hatte. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, und sie hörte alles wie durch Watte. Vielleicht hatte sie sich erkältet. Das würde auch den Schüttelfrost und den Kopfschmerz erklären. Aber ihre Nase war gar nicht verschnupft.

Maureen schaute sie verwundert an. »Ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte sie und legte einige Münzen auf den Tisch. »Du guckst so komisch.«

»Nur etwas Kopfschmerzen. Ich hab nicht gut geschlafen.« Celia deutete auf das Geld und fragte: »Was soll ich damit?«

»Einkaufen, Schätzchen.«

»Ach ja, richtig. Entschuldige!« Ein weiterer Schauer fuhr ihr über den Nacken, der sich ganz steif und verspannt anfühlte. »Also kein Mittagessen?«

Maureen verdrehte die Augen, kippte ihren Tee hinunter und stand auf. »Wir sehen uns um drei, Celia«, sagte sie und verließ die Küche. »Sei bitte pünktlich!«

Nachdem Celia die Küche aufgeräumt, die Betten gemacht, den Boden geschrubbt und überall Staub gewischt hatte, war sie wie benebelt. Es kam ihr vor, als hätte sie im Übermaß Alkohol getrunken, und sie fragte sich, ob aus der nach Chlor stinkenden Natronlauge, die sie in einem Schrank neben dem Ofen gefunden und mit der sie die Dielen gesäubert hatte, womöglich giftige Dämpfe aufgestiegen waren. Jedenfalls war sie froh, als sie endlich nach draußen kam und einkaufen gehen konnte.